Als ich unsichtbar war
daher kannte ich sie noch nicht richtig, aber ich erkannte ihre Stimme, als sie mit mir sprach. Ihre Hände umfassten einen meiner Füße, und sie begann ihn zu massieren. Ich spürte, wie sie meinen schmerzenden und hässlichen Fuß mit den Händen knetete, die Knoten löste und die Verspannung milderte. Ich konnte gar nicht glauben, dass sie mich aus eigenem Antrieb berührte, und die Tatsache, dass sie es tat, brachte mich zu der Erkenntnis, es gebe ja vielleicht doch noch einen winzigen Grund, nicht völlig am Leben zu verzweifeln. Möglicherweise war ich auch nicht ganz so abstoßend, wie ich gedacht hatte.
Dann hörte ich das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses an einem Beutel, den die Frau immer mit sich herumtrug und in dem sich die ganzen Öle befanden, die sie für ihre Aromatherapie benutzte.
»Na also«, sagte sie sanft, während sich der Duft von Minze in der Luft verteilte. »Ich bin sicher, das fühlt sich gleich viel besser an, wie? Dann lass uns mal den anderen Fuß vornehmen und sehen, ob wir den nicht auch etwas entspannen können.«
Natürlich, der Name der Frau war Virna, und es war das erste Mal, dass sie mich angesprochen hatte. Doch dieser Moment war es, der alle anderen kleinen Begebenheiten zusammenführte und das Puzzle komplettierte. Ich wusste nicht, was mir jede dieser fremden Personen gegeben hatte, bis eine von ihnen meinen gebrochenen, gekrümmten, nutzlosen Körper berührte und mir zu verstehen gab, dass ich nicht vollkommen abstoßend war. Und da realisierte ich, dass es vielleicht unsere Familien sind, die uns ein ums andere Mal auffangen, doch auch Fremde können uns retten – selbst wenn ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie es tun.
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44
Alles wird anders
I ch weiß, dass sich ein Leben im Bruchteil einer Sekunde ändern kann: Ein Auto kann auf einer belebten Straße ins Schleudern geraten, ein Arzt setzt sich, um eine schlechte Nachricht zu überbringen, oder ein Liebesbrief wird in einem Versteck entdeckt, von dem der Besitzer gedacht hatte, dort würde er nie gefunden. All diese Dinge können innerhalb von Sekunden eine ganze Welt zum Einsturz bringen. Aber ist es auch möglich, dass das Gegenteil geschieht – dass das Leben plötzlich einen neuen Sinn bekommt, statt zerstört zu werden? Dass ein Mann ein Gesicht sieht und sofort weiß, dass es jener Frau gehört, mit der er den Rest seines Lebens verbringen will?
Sie ist eine dieser Frauen, die das Herz eines jeden Mannes höher schlagen lässt, und dennoch spüre ich mit Gewissheit, dass da etwas an ihr ist, das sich nur mir zuwendet. Ich lernte sie vor einem Monat am Neujahrstag kennen, als Kim aus England anrief. Zuerst schenkte ich dem Gespräch keine besondere Aufmerksamkeit, als sich meine Eltern über die Webcam mit meiner Schwester unterhielten und ich hörte, wie Kim ihnen ihre Freundinnen vorstellte, mit denen sie den Tag verbrachte. Doch dann wendete ich den Kopf, sah eine Frau mit blauen Augen, blondem Haar und dem wärmsten Lächeln, das mir je begegnet war, und mein Leben änderte sich für immer.
Sie saß zwischen Kim und einer dritten Frau mit dunkelbraunem Haar. Sie alberten herum, während ihre Gesichter auf dem Bildschirm erschienen.
»Das hier ist Danielle«, sagte Kim und wies auf die dunkelhaarige Frau. »Und das ist Joanna.«
»Hallo, Martin!«, sagten sie im Chor.
Ich hörte sofort, dass beide aus Südafrika stammten. Sie lachten. Ich lächelte zurück.
»Oh!«, sagte Danielle. »Er sieht gut aus.«
Mein Gesicht lief feuerrot an, als alle drei zu lachen begannen. Dann stand Kim auf und verließ den Raum, und ich war Joanna und Danielle alleine überlassen.
»Zeig uns deine Arme«, sagte Danielle. »Ich bin Ergotherapeutin, daher weiß ich, dass Burschen wie du meistens kräftige Arme haben.«
Ich hatte das Gefühl, mein Gesicht müsste noch röter anlaufen, als ich sie anschaute. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte.
»Wie geht es euch beiden?«, schrieb ich.
»Hervorragend!«, sagte Danielle. »Was machst du heute?«
»Arbeiten, wie an jedem anderen Tag. Wie war euer Silvesterabend?«
»Lustig. Wir waren in London. Es war toll.«
Joanna war ruhiger als Danielle, doch ich bemerkte, wie ihr Blick immer nach unten wanderte, sobald ich etwas schrieb. Sie konzentrierte sich auf jedes meiner Wörter. Ich wollte sie sprechen hören.
»Wie hast du denn meine Schwester kennengelernt, Joanna?«, fragte ich.
»Wir arbeiten zusammen«, antwortete sie. »Ich bin
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