Als ich unsichtbar war
niemandem erlebt habe.«
Wir schweigen eine Weile. Ich sehe sie über die Webcam, wie sie eine Hand in Richtung des Bildschirms hebt, und ich weiß, dass sie mir aus einer Entfernung von 10.000 Kilometern die Hand reichen will.
»Dann kommst du also ganz sicher?«, fragt sie.
»Ich bin fest entschlossen«, sage ich. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dich zu treffen.«
Ich betrachte ihr Gesicht. Ich kann kaum glauben, dass sie überzeugt davon ist, alles könne so einfach ablaufen wie der Kauf eines Tickets und das Treffen mit einem Fremden. Sie ist so sicher, dass wir beide uns eines Tages lieb haben werden, und sie sagt mir, dass wir es nicht beschleunigen oder kontrollieren können, wir sollten es sich einfach entwickeln lassen. Sie fühlt sich nicht von der Liebe betrogen, wie es mir manchmal ergeht, und ich spüre, dass ihr Optimismus mich Faser um Faser ansteckt und mir den Glauben vermittelt, alles sei möglich.
»Die Dinge geschehen zur rechten Zeit«, sagt Joanna. »Für jeden von uns gibt es einen Plan.«
Ich hebe meine Hand, um ihre Hand auf dem Bildschirm vor mir zu bedecken. Wie sehr verlangt es mich, Joanna ganz in meiner Nähe zu haben! Wie heftig beginnt mein Herz zu klopfen, wenn ich ihr Gesicht betrachte und sehe, dass es ihr ernst ist mit dem, was sie sagt. Sie will mich treffen! Sie will ihre Zeit mit mir verbringen, um mich kennenzulernen. Ich kann es kaum erwarten, ihr persönlich zu begegnen. Aber vorher gibt es noch etwas, über das ich mit ihr reden muss.
»Ich möchte dir noch sagen, wie es körperlich um mich bestellt ist«, schreibe ich. »Ich möchte, dass du genau weißt, wer ich bin.«
»In Ordnung«, sagt sie.
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46
Die Wahrheit über mich
I ch werde nichts beschönigen«, schreibe ich ihr in einer E-Mail. »Ich erzähle dir alles, wobei ich Hilfe benötige, und wenn du deine Meinung änderst, nachdem du es gelesen hast, ist es auch gut.
Ich esse alles und kann mit den Fingern essen, aber bei Messer und Gabel brauche ich Hilfe. Ich kann nicht alleine unter die Dusche gehen und komme auch nicht alleine heraus, aber ich kann mich selbst waschen und abtrocknen, obwohl ich dich eventuell bitten müsste, die Shampooflasche aufzuschrauben.
Außerdem muss ich rasiert werden, da ich es selbst nicht kann, und ich kann mich einigermaßen gut selbst anziehen, wenn meine Kleidung neben mir ausgebreitet wird. Ich kann keine Knöpfe zumachen, Reißverschlüsse hochziehen oder Schnürsenkel binden.
Ich brauche Hilfe, wenn ich auf die Toilette will, außerdem beim Ein- und Aussteigen zwischen Rollstuhl und Auto. Ohne Unterstützung kann ich nicht aufrecht sitzen, daher muss ich gegen etwas gelehnt werden, sofern ich nicht in meinem Rollstuhl sitze.
Ich kann meine Füße benutzen, um meinen Rollstuhl auf Holzböden zu bewegen, nicht aber auf Teppichböden. Und während ich den Rollstuhl bewegen kann, indem ich mich von etwas mit meinen Armen abstoße, habe ich nicht die Kraft, mich auf einer Straße oder dem Bürgersteig fortzubewegen, wenn ich in meinem gewöhnlichen Rollstuhl ohne Elektroantrieb sitze.
Ich glaube, das ist es im Wesentlichen. Ach ja, ich trinke mit einem Strohhalm.«
Ich starre ein letztes Mal auf den Bildschirm. Mein Herz schlägt schneller, als ich auf die ›Senden‹-Taste drücke. Ich frage mich, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, ihr das alles so frank und frei und auch noch schwarz auf weiß zu erzählen. Aber ich will vollkommen aufrichtig mit Joanna sein, weil ich keine Pflegerin brauche oder jemanden, der mich bedauert. Ich will auch keine Träumerin, deren Fantasie wie eine Seifenblase zerplatzt, wenn sie mit der Realität konfrontiert wird, oder jemanden, der mich retten will. Und schon gar nicht erhoffe ich mir eine Frau, die mich gerade wegen meines nicht perfekten Körpers liebt. Wenn ich als der geliebt werden will, der ich bin, dann muss Joanna alles über mich wissen. Obwohl ich schon etwas Angst habe, ihr das alles zu beichten, bin ich doch irgendwie sicher, dass es ihr nichts ausmachen wird. Weshalb, kann ich nicht genau erklären. Ich weiß einfach, dass es so ist.
Am nächsten Morgen erhalte ich eine Antwort auf meine Nachricht: »Das spielt doch alles keine Rolle«, schreibt sie. »Für alles findet sich eine Lösung, wenn wir uns nur einig sind.«
Tief in meinem Inneren wächst ein Gefühl wie die friedliche Ruhe, die sich einstellt, wenn in einem herbstlichen Wald das letzte Blatt vom Baum fällt. Alles ist still. Mein
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