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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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im Geringsten gewachsen war, mich unter dermaßen vielen fremden Menschen zu befinden, als Kim und Joannas Freunde zu ihrer Geburtstagsfeier gekommen waren; dass ich im Restaurant beim Anblick von Speisekarten viele Gerichte überhaupt nicht kenne, geschweige denn, dass ich wüsste, welches ich davon wählen soll; dass ich mich fast im Minutentakt entschuldigen möchte für irgendetwas, das ich meines Erachtens falsch gemacht habe.
    Es ist nicht so, als wolle ich nicht der sein, für den Joanna mich hält. Ich habe nichts anderes im Sinn, als sie zu beschützen und ihr Sicherheit zu geben. Aber während sie mich jetzt anschaut, wird mir klar, dass es nicht darum geht, was ich will; ich bin nicht die Sorte Mann, die Joanna braucht. Sie wird sich nie auf mich verlassen können. Ich bin so erschüttert von der Welt, dass ich mich aus diesem winzigen Streifen, den ich kennengelernt und verstanden habe, zurückziehen werde.
    »Martin, mein Liebster!«, sagt Joanna. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    Mein Herz schlägt dumpf in wilder Panik, als ich den Kopf hebe. Ihr Gesicht verschwimmt vor meinen Augen, in denen sich Tränen sammeln. Es gelingt mir nicht, sie zurückzuhalten. Mitten in dem Geschäft beginne ich zu weinen, und dann spüre ich, wie sie mich in die Arme nimmt.

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    56
Ginger und Fred
    E s gibt sehr viele Momente mit Joanna, an die ich mich erinnere, und dies ist einer davon. Es ist ungefähr elf Uhr abends, und wir befinden uns auf dem Trafalgar Square im Herzen Londons. Nachdem wir den Tag mit dem Besichtigen von Sehenswürdigkeiten und einem Theaterbesuch verbracht haben, sind wir jetzt mitten auf diesem gewaltigen Platz gelandet. Über uns steht Admiral Nelson auf seiner Säule und wacht über London. Beschützt wird er durch vier imposante Löwen, und daneben gibt es einen Springbrunnen, der nachts beleuchtet ist. Endlich ist es dunkel. In England geht die Sonne um diese Jahreszeit erst sehr spät unter, doch jetzt ist der Himmel über uns schwarz. Wir müssen bald aufbrechen, doch vorher ist da noch etwas, das wir tun müssen.
    In meinem Kopf schwirrt es von all den Bildern der vergangenen zwei Wochen, Momentaufnahmen, die ich mit mir nehmen werde, wenn ich abreise: Wie ich Joanna zum ersten Mal auf meinen Armen trage, als wir schwimmen gehen und das Wasser mich so weit unterstützt, dass ich sie halten kann; wie wir das Yorck Minster betreten und mich die Schönheit der Kathedrale überwältigt – die Steine und das Licht, die Ruhe und Beschaulichkeit –, während ich ihre Hand in meiner spüre; wie wir zusammen in einem Rosengarten sitzen und im Sonnenschein zu Abend essen; wie ich den Duft frischen Kaffees einsauge, während Joanna mir gegenübersitzt und ich begreife, dass wir endlich zusammen sind. Es gilt unendlich viele Erinnerungen festzuhalten: neben ihr einzuschlafen, obwohl sich auf der Kinoleinwand Schauspieler anbrüllen; ihr ins Gesicht zu lachen, als sie harten schottischen Whisky hinunterzuspülen versucht; das Lächeln in ihrem Gesicht, als wir zusammen im Sherwood Forest sitzen.
    Jetzt schweigen wir und blicken uns an. Vor unserer Begegnung haben wir von so vielen Dingen geträumt, die wir tun wollten, und das hier war einer dieser Träume. Ich nehme ihre Hand und stoße mich mit dem Fuß vom Boden ab. Langsam gleite ich in meinem Rollstuhl voran und führe Joanna im Kreis um mich herum. Ich schaue sie an und weiß, dass sie dieselbe Musik hört wie ich. Es ist eine fröhliche Weise – nicht zu schnell, nicht zu langsam. Sie lacht, während sie herumwirbelt, und ihr Haar beginnt in der leichten Brise zu schweben. Freude durchflutet meinen Körper. Wir tanzen.

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    57
Abreise
    F alls ich irgendwann geglaubt haben sollte, Joanna sei ein Traum, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem ich ganz sicher weiß, dass sie Realität ist. Es tut mir weh, als ich sie weinen sehe. Heute verlasse ich England, und es wird zwei Monate dauern, bis wir uns in Kanada wiedersehen werden. Während ich sie betrachte, sage ich mir, dass wir nach vorne schauen müssen, mit Blick aufs Jahresende, wenn sie über Weihnachten nach Südafrika fliegen wird, und danach kehren wir nach England zurück, um unser gemeinsames Leben zu beginnen. Diese Entscheidung haben wir getroffen, doch vorerst werden wir niemandem davon erzählen, bis wir unsere endgültigen Pläne gemacht haben. Dennoch erscheint alles unendlich fern, als ich Joannas Wange küsse. Sie richtet sich schweigend auf und wischt ihre Tränen

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