Als ich unsichtbar war
weg.
»Was werde ich nur ohne dich tun, Liefie?«, fragt sie und beugt sich nach vorne, um mir einen Kuss zu geben.
Ich schaue sie an und weiß, dass sie alles versteht, was ich sagen möchte.
Dann reißt sie sich los und steht seufzend auf. »Ich bringe das Gepäck in den Wagen«, sagt sie. »Wir müssen uns bald aufmachen.«
Ihre Finger gleiten langsam aus meiner Hand, als wolle sie so lange wie möglich mit mir verbunden bleiben. Doch wir wissen beide, dass wir uns ins Unvermeidliche fügen müssen, als sie das Zimmer verlässt. Mein Herz fühlt sich wie ein Stein in meiner Brust an, während ich in den leeren Flur schaue, aber nach all den Beschwichtigungen, die sie mir hat zuteil werden lassen, muss ich mich Joanna gegenüber tapfer zeigen.
»Ich weiß, dass es nicht immer so sein wird«, sagte sie mir, nachdem ich ihr meine Angst gebeichtet hatte, sie habe sich unklugerweise für einen Mann entschieden, den ihre Welt so verwirrt und orientierungslos gemacht habe. »Dies war doch ein erster Besuch, und dir blieb gar nichts anderes übrig, als verwirrt zu sein. Ich bin sicher, dass es nicht ewig andauern wird, denn du wirst dich an das hiesige Leben gewöhnen. Und ich weiß, was für ein starker und fähiger Mann du bist, Martin. Schau dir doch nur an, was du alles geschafft hast. Bitte lass nicht zu, dass du durch diese Reise an dir selbst zu zweifeln beginnst.«
Als sie mich anlächelte, war mir klar, dass es mir nie zu viel werden würde, mit ihr an einem Tisch zu sitzen und zu reden. Es ist eines unserer größten gemeinsamen Vergnügen, und häufig sind wir die Letzten, die ein Restaurant verlassen.
»Gut gemacht, mein Sohn!«, sagte eines Tages ein alter Mann zu mir, als er an unserem Tisch vorbeikam und Joanna und mich reden sah.
Wir schauten ihn beide an und wussten nicht recht, was er gemeint hatte.
»Dass du dein Alphabet gelernt hast!«, sagte er und deutete auf meine Alphabettafel.
Doch unser Gelächter scheint jetzt so lange zurückzuliegen, als ich meinen Kopf wende und mich im leeren Zimmer umschaue. Ich spüre schon jetzt den Schmerz, wenn ich Joanna vermisse. Ich versuche ihn zu unterdrücken. Ich darf mich ihm nicht hingeben. Ich muss ihr gegenüber tapfer bleiben. Doch der Schmerz wird immer stärker. Innerhalb von zwei Wochen hat sich alles geändert. Ich habe mich daran gewöhnt, jeden Morgen als Erstes sie zu sehen, am Abend als Letztes wieder sie, und tagsüber wieder und wieder ihre Berührung zu spüren. Jetzt muss ich zurück in mein altes Leben. Doch wie soll das gehen, nachdem ich so lange darauf gewartet habe, sie zu finden?
Meine Brust zieht sich zusammen, und der Schmerz wird immer heftiger. Ich verschlucke mich fast, als ich ein gedämpftes Geräusch höre, ein ersticktes Keuchen vor Schmerz. Es kommt aus dem Nichts. Ich schaue mich um. Das Zimmer ist leer. Ich war es, der das Geräusch machte. Es ist das erste Geräusch, das ich mich selbst habe machen hören. Es ist der aus den tiefsten Tiefen kommende Aufschrei eines verwundeten Tiers.
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58
Scheideweg
D iese Aussprache hatte seit meiner Rückkehr in der Luft gelegen wie ein Raubvogel, der nur darauf wartet, hinabzuschießen.
»Du bist einfach verschwunden«, sagt mein Vater, als er sich mir gegenüber hinsetzt. »Du hättest uns wenigstens sagen können, wo du bist und was du tust. Deine Mutter war außer sich, als wir nichts von dir hörten.«
Ich glaube nicht, dass er wirklich mit dem Herzen bei diesem Gespräch ist, aber ich habe damit gerechnet, nachdem Kim mich kurz vor meiner Abreise aus England zur Seite genommen hatte.
»Mam und Dad haben sich richtig Sorgen gemacht«, sagte sie. »Und Dad war stocksauer, dass du dich am Vatertag nicht gemeldet hast.«
Ich hatte meine Zweifel, ob das ganz der Wahrheit entsprach. Meine Eltern wissen immer über alles Bescheid, was ich gerade tue und wo ich wann gerade bin, aber ich glaube, meiner Mutter wäre es viel mehr an die Nieren gegangen, wenn ich meine Familie zum ersten Mal vergessen hätte. Allerdings ist mein Kopf dermaßen mit der Zukunft beschäftigt, dass ich mir kaum Gedanken über die Gegenwart mache, als mein Vater mich zur Rede stellt.
Joanna und mir bleiben wieder einmal nur das Internet und das Telefon, und ich frage mich, wie wir die ersten sechs Monate nach unserem ersten Kontakt überhaupt überleben konnten. Und jetzt ist es noch um vieles härter, von ihr getrennt zu sein, als es vor unserem Treffen schon war.
Doch statt mich total verrückt
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