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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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zu, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Was soll ich denn jetzt mit drei Paar Schuhen anfangen?
    Mir ist klar, dass ich mich entscheiden und zeigen muss, dass ich weiß, was ich will. Wenn nicht, wird Joanna die Wahrheit über etwas erfahren, das ich ihr bislang verheimlicht habe. Es ist ein Geheimnis, das ich über all die Monate hinweg, die wir uns jetzt schon kennen, für mich behalten habe. Ich habe es so sehr gehütet, dass ich auf jeden Fall verhindern muss, es jetzt in aller Öffentlichkeit auszubreiten. Doch mir bleibt keine Wahl, ich muss es offenlegen: Ich bin ihrer nicht würdig. Wie soll ich ihr jemals ein guter Ehemann sein, wenn ich noch nicht einmal ein Paar Schuhe auswählen kann? Ich bin aufgeschmissen in Joannas Welt, in der ständig Entscheidungen getroffen werden müssen – was gegessen werden soll, wohin man geht, wann Dinge zu erledigen sind. Sobald eine Entscheidung gefallen ist, habe ich das Gefühl, die nächste liegt schon auf der Lauer, und ich fühle mich überfordert durch die Alternativen, zwischen denen zu wählen ich nicht gelernt habe.
    »Welches Müsli hättest du gerne?«, fragte mich Joanna bei unserem ersten Einkauf in einem Supermarkt.
    Ich linste auf die verwirrende Vielfalt bunter Schachteln in den Regalen und stellte fest, dass ich nicht den leisesten Schimmer hatte, wie oder wo ich mit einer Entscheidung beginnen sollte. Wie schafften die Leute es nur, überhaupt irgendetwas zustande zu bringen, wenn die Frage, was sie essen sollten, bereits Stunden in Anspruch nahm? Und in dem Supermarkt ging es mir mit allem so, da gab es von allem nicht nur eine Sorte, sondern hundert.
    Als sie sah, dass ich mich nicht entscheiden konnte, fragte mich Joanna, worauf ich Appetit habe, doch auch das konnte ich nicht beantworten. Vor Urzeiten schon hatte ich vergessen, wie es war, Hunger zu haben oder mich auf ein bestimmtes Essen zu freuen, weil ich gelernt hatte, das Gefühl eines knurrenden Magens oder ein Verlangen, von dem ich wusste, dass ich es nie würde befriedigen können, einfach zu ignorieren. Inzwischen bin ich hin und wieder in der Lage, einen Essenswunsch zu äußern, aber ich könnte nie genug auswählen, um einen ganzen Einkaufswagen zu füllen, wie andere das tun.
    Ich starre erneut auf die Turnschuhe. Ich wusste, das dieser Moment kommen würde, ich habe auf ihn gewartet. Und ich wusste auch, dass ich manchmal gezwungen sein würde, eine Entscheidung für mich selbst zu treffen, aber Joanna hat nicht auf mich gehört. Stattdessen versuchte sie mich damit zu beruhigen, ich würde in ihrer Welt schon zurechtkommen, und deshalb wollte ich ihr den Fehler ihrer Vorgehensweise dadurch deutlich machen, dass ich sie immer wieder fragte, weswegen genau sie mich liebt.
    »Weil du ein guter, lieber Mann bist, der sich von allen anderen unterscheidet, die ich bisher gekannt habe«, sagt sie. »Weil du intelligent, rücksichtsvoll und nachdenklich bist, warm und weise. Weil du so unverbrüchlich liebst und mich gelehrt hast, mal halblang zu machen und von einer Welt Notiz zu nehmen, die lange Zeit einfach an mir vorbeigerauscht ist. Es gibt so viele Gründe, Martin: dein Lächeln, die Art, wie du mich anschaust. Ich kann sie dir nicht alle aufzählen.«
    Im Moment helfen mir ihre Beteuerungen allerdings wenig. Ich kann nicht einmal entscheiden, welche Schuhe ich haben will. Sie wird erkennen, dass ich in meinem tiefsten Inneren die Welt der Erwachsenen immer noch nicht verstehe. Meine Angst vor der Welt wirkt wie eine Bürde, die unglaublich schwer auf mir lastet, wie ein Schatten, der all ihr Licht schluckt. Ich bin nicht der, für den sie mich hält. Ich bin ein Hochstapler.
    »Was für ein hübscher Mann!«, sagte sie vor ein paar Tagen, als sie mich rasierte.
    Joanna lächelte mich im Spiegel an, doch ich konnte ihr Lächeln nicht erwidern und erstarrte innerlich, da ich noch nie von einer Frau als Mann bezeichnet worden war. Lange schon hatte ich gehofft, diese Worte von einer Frau zu hören, gleichzeitig aber überkam mich Angst, als sie dann fielen, denn ich hatte Jahre dafür gebraucht, endlich zu akzeptieren, dass ich erwachsen bin. Als Joanna mich anschaute, schaffte ich es nicht einmal, mein eigenes Spiegelbild zu betrachten, weil ich nicht glauben konnte, was sie sagte.
    »Schau dich an, Martin«, sagte sie sanft. »Bitte, schau dich einfach mal an.«
    Sie hätte mir nicht gesagt, ich sei ein Mann, wenn sie die Wahrheit gekannt hätte: dass ich der Situation nicht

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