Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
komplett finanziert werden. Remmers weist darauf hin, dass sich solche Kriterien wohl nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren lassen. Er schaut ernst.
– Auch wenn ich diese Positionen selbst nicht vertrete, werden wir auf Dauer nicht darum herumkommen, diese Fragen zu diskutieren. Wir brauchen da eine offene Debatte. In dieser Debatte wird zu klären sein, wie und was wir in Zukunft in unserem Gesundheitssystem finanzieren wollen und welche Einschränkungen gegebenenfalls hinzunehmen sind.
Erinnerungen V
»An was erinnerst du dich aus der Zeit, als der Krieg zu Ende ging?«
»An die weiße Fahne. Als die Amerikaner kamen, hatten alle die weiße Fahne rausgehängt. Und wir saßen im Keller und schlotterten vor Angst. Eine Frau hatte sich einfach schon mal nach oben gewagt und sagte: ›Da laufen schwarze Neger rum!‹«
Sie atmet tief ein.
»Dann hauten die mit den Gewehren gegen die Haustür. Und wir saßen da. Mein Opa war kein Held, aber er musste dann raufgehen. Ihm gehörte ja das Haus.«
Sie schluchzt.
»Aber die waren überhaupt nicht schlimm. Die waren ganz lieb und freundlich und sagten, wir müssten uns nur ruhig verhalten, und fragten, ob wir Waffen hätten. Aber hatten wir ja alle nicht. Wir blieben im Keller. Am nächsten Morgen kamen die wieder und sagten: ›Dieses Haus …‹ Kannst du dich noch an die Mauerstraße 5 erinnern? Mein Elternhaus?«
»Ja, klar.«
»Das wurde als Hauptquartier gewählt, weil das ein bisschen erhöht stand. Opa und ein Mann, der gegenüber wohnte, mussten den Bürgermeister holen. Der sollte die Stadt übergeben. Die sind mit der weißen Fahne losgezogen und haben den Bürgermeister geholt. Und dann weiß ich nicht, ob ich das gesehen habe oder ob ich das nur vom Erzählen kenne … der saß dann schweißüberströmt bei Oma in der Küche. Als er wieder zu Hause war, hat er sich erschossen.«
»War der in der Partei?«
»Ja … Wir mussten dann aus dem Haus raus und sind in das Nachbarhaus gegangen. Mutti musste sehr weinen. Sie hatte den kleinen Joachim auf dem Arm. Und ein Amerikaner hat ihr dann Schokolade gegeben.«
Ihre Stimme stockt.
»Nebenan wohnten zwei Mädchen in meinem Alter. Für uns Kinder war das ein Fest. Wir durften sogar in den Ehebetten schlafen.«
Sie lacht mit verweinter Stimme.
»Und die Alten vertrugen sich auch plötzlich so gut.«
Sie lacht laut.
»Die saßen in der Küche und hatten Späßchen. Und wir haben das richtig genossen. Dann wurden die Nazis gejagt, ja. An der langen Mauer vor unserem Haus mussten sich alle hinstellen, die im Krieg gewesen waren. Papa auch. Der war ja schon wieder da, weil er desertiert war. Erst wollten sie ihn verstecken, meine Mutter hat aber gesagt: ›Das geht nicht! Das kommt raus. Die wissen alle, dass du im Krieg warst.‹ Also musste er sich auch da hinstellen.«
Sie macht eine Pause.
»Die wurden alle auf Lastwagen abtransportiert. Und wir heulten alle.«
Wieder eine Pause.
»Was ich auch gesehen habe, wo sie ganz scharf hinterher waren, das waren die Bewacher der Lager der russischen Kriegsgefangenen. Die wurden gejagt und gehetzt, und ich sah einen, der lag unten erschossen an der Straße, wo die Litfaßsäule stand. Der war so mit Papier zugedeckt. Wir sind da immer hin, wollten den angucken, waren aber zu bange. Den haben sie da zwei Tage liegen lassen, zur Abschreckung wahrscheinlich.«
»Wieso wurde der erschossen?«
»Weil er die Gefangenen beschissen hat und weil er vielleicht auch welche erschlagen hat.«
Ihre Stimme wird laut.
»Was glaubst du, wie schlecht es den Gefangenen ging? Die Rationen, die für die waren, wurden unterschlagen. Ich kann mich erinnern, wie die russischen Zwangsarbeiter zu Krupp geführt wurden. Die konnten kaum laufen, weil sie so ausgehungert waren. Und viele, die mutig waren, haben denen heimlich Butterbrote gegeben. Gott weiß, was denen passiert wäre, wenn das aufgefallen wäre. Und mein Papa, der hat denen auch schon mal was aus dem Garten mitgebracht. Und die Russen haben sich dann an ihren Bewachern ganz schwer gerächt. Vor den Russen hatte jeder ganz große Angst. Viele sind vor denen in die Wälder geflüchtet. Und manche haben sie gekriegt.«
Meine Mutter will nicht zur Tour de France
Egon ist gestorben. Bis zuletzt hat er gekämpft, sich ans Leben geklammert, wollte einfach nicht loslassen. Die Reaktionen meiner Mutter zu deuten, ist nicht einfach. Äußerlich ist sie in den Tagen und Wochen danach weitgehend gefasst. Hin und wieder fragt
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