Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
sie, wo er denn nun sei, und bittet darum, zu ihm geführt zu werden. Ich weiß nicht, wann und wie sie den Tod ihres Partners realisiert hat, realisiert oder realisieren wird.
Sie sitzt jetzt die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer. Es ist ihr lieber so, sagt sie. Zu anderen Bewohnern des Heims hat sie kaum Kontakt. Die angebotenen Aktivitäten lehnt sie in der Regel ab, nimmt nur Teil, wenn man sie ganz direkt auffordert. Dann scheint sie aber meistens Spaß zu haben. Sie sagt auch, dass sie froh ist über die viele Arbeit, die ihr abgenommen wird. Ich wünschte mir, sie würde sich mehr fordern oder würde mehr gefordert, anstatt die meiste Zeit einfach nur dazusitzen. Andererseits hat sie ja ein Recht auf Nichtstun. Nur, es tut ihr nicht gut, denke ich.
Bei einem meiner Besuche nehme ich die CD mit, auf der meine Mutter ihr Leben erzählt. Sie sitzt in ihrem Ledersessel, ihre Beine sind in eine Wolldecke gehüllt und liegen auf einem Stuhl. Sie macht einen zufriedenen Eindruck. Ich lege die Aufnahme in den CD -Player.
»Die Mauerstraße 5 in Hohenlimburg. Das ist das Haus, in dem ich geboren bin, in dem ich bis zu meiner Heirat gelebt und gewohnt habe. Das Haus meiner Großeltern.«
Sie hört sich selbst zu, lächelt.
»Wir hatten da eine Wohnung, meine Großeltern hatten eine … und dann waren noch drei Wohnungen vermietet.«
Eine seltsame Situation: Ich höre mit meiner Mutter eine Aufnahme ihrer Erinnerungen, die sie zum Teil vermutlich schon vergessen hat und in absehbarer Zeit wohl komplett vergessen haben wird.
»Und dann kann ich mich noch sehr gut erinnern, wie wir mit der Hausgemeinschaft ›Mauerstraße 5‹ Weihnachten feierten.«
Die Stimme einer lebendigen, wachen, vergnügten Frau. Sie spricht schnell. Die Erinnerungen sprudeln eher, als dass sie fließen. Es ist schön, ihr zuzuhören.
»Erst feierten die Familien bei uns im Haus für sich mit ihren Kindern den Heiligen Abend. Dann ging man von einer Wohnung zur anderen. Und das nannten die ›Bäume prämieren‹.«
Ich schaue zu ihr rüber, sie ist eingeschlafen. Ich bin enttäuscht. Irgendwann wacht sie wieder auf. Ihrem Gesicht sehe ich an, dass sie zu verstehen versucht, wo sie ist.
»Ich weiß, dass Mutti oft sagte: › Ach, wenn ich nur einmal auch so mit nichts was zu tun hätte! ‹ Sie musste das alles einteilen.«
– Weißt du, wer da spricht?
Sie grübelt.
»Mir ist auch jetzt mal eingefallen: Ich hab da Akkordeon-Unterricht gehabt, die Stunde kostete zwei Mark. «
– Nein.
– Das bist du.
– Ach.
»Die lagen immer in einem Mokka-Tässchen im Küchenschrank, damit die ja da waren, wenn der Lehrer kam. Das war schon alles recht knapp bei uns.«
Als ich mich zu ihr umdrehe, ist sie schon wieder eingeschlafen. Auf ihrem Gesicht erneut ein zartes Lächeln.
Nach dem Nachmittagskaffee ist sie wach und unruhig. Und ich bin es irgendwann müde, ihr immer wieder aufzuhelfen, immer wieder mit ihr durch das Zimmer zu irren, immer wieder Fragen beantworten zu müssen, deren Sinn ich nicht verstehe. Irgendwann sitzt sie wieder im Sessel, gibt mir wieder ein Zeichen, ich solle kommen und ihr helfen. Ich tue es nicht, bleibe sitzen, schaue demonstrativ in eine Zeitschrift und frage mich, ob ich meine Macht missbrauche. Plötzlich steht sie ganz allein auf. Draußen macht das Wetter eine Regenpause, wir gehen in den kleinen Park, drehen die üblichen Runden. Ich erzähle vom Alltag in Berlin, meiner Frau, den Töchtern, meiner Arbeit. Meine Mutter reagiert mit »Ja, ja«, »Ach, wie schön«, »Freut mich« oder »Das ist nett«. Ich bin mir sicher, dass sie nicht alles einordnen kann, was ich sage, weiß aber nicht, wie weit das heute bei ihr geht, und frage auch nicht nach. Wichtig ist mir, dass wir entspannt miteinander an der frischen Luft sind. Das gelingt.
Später sitzen wir wieder in ihrem Zimmer und schauen im Fernsehen noch die Tour de France. Meine Mutter hat das immer geliebt, hat sich selbst noch mit Anfang sechzig im sportlichen Trikot auf ihrem Rennrad durch das hügelige Sauerland gekämpft. Jetzt versucht sie, den Bildern zu folgen. Es strengt sie an.
– Jörn?
– Ja.
– …
– Was ist Mama?
– Kannst du mir helfen?
– Klar, womit?
– Ich habe da Karten für bestellt.
Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass sie die Tour des France meint. Sie hat nie eine Etappe des Rennens vor Ort beobachtet, für die man an der freien Strecke auch gar keine Karten vorbestellen kann, weil da
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