Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
gar keine Karten benötigt werden. Aber das sage ich ihr jetzt besser nicht.
– Für wann denn?
– Nächste Woche.
– Und wo ist das Problem?
– Ich hab es mir anders überlegt. Ich will da doch nicht hin.
Ich glaube, nein, ich bin mir eigentlich sogar sicher, dass ich meiner Mutter da helfen kann.
– Zu anstrengend?
– Ja. Aber ich hab doch die Karten.
– Kein Problem, die kann ich zurückgeben.
– Ehrlich?
– Kein Problem Mama. Ist nur ein Anruf, mache ich gern.
Sie schaut wieder zum Fernseher, grübelt weiter. Ich entspanne mich, bin fast froh über dieses Problem, fast stolz über meine Lösung und genieße das Erfolgserlebnis. Dann blickt meine Mutter wieder zu mir, mustert mich.
– Ich weiß nicht, ob das alles stimmt, was du mir erzählst.
»Treffer«, denke ich, und: »Versenkt!« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, hole tief Luft und … Hole noch mal tief Luft.
– Glaubst du, ich flunkere?
– Weiß man es.
Sie mustert mich weiter, und ich würde jetzt gern hier im Zimmer ein tiefes, tiefes Loch graben für mich ganz allein. Ich weiche ihrem Blick aus und schaue zum Fernseher. Was soll ich sagen? Etwa: »Ja, ich habe gelogen. Ich habe gelogen, weil ich dir helfen wollte und weil es für diese verdammte Tour gar keine Karten gibt und du auch deswegen gar keine bestellt haben kannst, weil du dir das in deinem schrumpfenden Gehirn alles nur einbildest, weil du aber wütend oder traurig oder beides wirst, wenn ich versuche dir das klarzumachen, dir klarzumachen, dass DU EINE DEMENZ HAST und es immer schlimmer wird? Aber ich will nicht, dass du dement bist und ich will nicht, dass du wütend oder traurig bist. Deswegen habe ich gelogen, und es tut mir leid. Aber sag mir doch bitte mal, was ich machen soll?«
Ich hole tief Luft und sage gar nichts. Meine Mutter schweigt ebenfalls, und irgendwann verabschiede ich mich.
Später im Auto suche ich zwischen CD s und Radiosendern einen Soundtrack für das, was gerade passiert ist. Vergebliche Mühen. Ich schreie laut. Klingt nicht gut, passt aber.
»Dem Tod bei der Arbeit zusehen«
Der Psychiater Hans Lauter
Bei meinen Recherchen zur Demenz stoße ich auf einen Aufsatz von Hans Lauter, einem emeritierten Professor der Psychiatrie. Lauter beschreibt Demenz unter anderem als einen »im Zeitlupentempo ablaufenden Sterbeprozess«. Das ist ein Satz, der mir Angst macht. Darüber hinaus hat Lauter sich immer wieder mit Patientenverfügungen und ärztlich unterstütztem Suizid beschäftigt.
Ich schreibe ihm mit der Bitte, ihn in München besuchen zu dürfen. Am Telefon erzählt er, dass er bereits in den sechziger Jahren über das Thema Demenz habilitierte. Damals hatte er große Schwierigkeiten, überhaupt Betroffene mit der Diagnose Alzheimer-Demenz zu finden, weil die Bezeichnung in dieser Zeit nur verwendet wurde, wenn man ein solches Leiden bei Menschen im mittleren Lebensalter erkannte. Seine Kollegen hätten ihn daher immer wieder irritiert gefragt, warum er sich für so ein exotisches »Kolibri-Thema« interessiere.
Die Beschäftigung mit der Demenz erweitert den Blick, sagt der Vierundachtzigjährige, weil man über »die Grundlagen des Menschseins, über die Zeit und das Zeiterleben und schließlich über das Hineingehen ›in das große Vielleicht des Todes‹« nachdenkt. Und ja, ich dürfe ihn gerne in München besuchen.
Ein paar Wochen später sitze ich in Lauters gemütlicher und heller Neubauwohnung in Schwabing vor einem Teller leckerer Schnittchen. Lauter ist ein ausgesprochen zuvorkommender Gastgeber. Bevor ich mit meinen Fragen beginne, erkundigt er sich ausführlich nach meiner Mutter. Dieses Interesse an einer ihm völlig unbekannten Frau berührt mich.
Ich versuche auf das Thema zu kommen, spreche einleitend und allgemein die demografischen Herausforderungen der Alterspyramide an, die wachsende Zahl von Menschen mit Demenz, die Finanzierungsprobleme im Gesundheits- und Pflegesystem, die nationalen und internationalen Wirtschaftsdauerkrisen … Erkläre aber auch, dass ich Schwarzmalerei vermeiden und den »Teufel nicht an die Wand malen« möchte. Beim »Teufel« unterbricht er mich.
– Den brauchen Sie nicht an die Wand zu malen. Der macht sich bereits in einigen philosophischen Debatten der Gegenwart bemerkbar.
Lauter sagt das ganz ruhig, während er sich einen neuen Zigarillo ansteckt, und ich weiß nicht, ob ich über seine klare Haltung erfreut oder erschrocken sein soll.
– Wo genau ist der
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