Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Familiengeschichte. Als der Ältere von uns beiden war er den Erwartungen und Projektionen unserer Eltern wesentlich stärker ausgesetzt und musste sich wesentlich radikaler lösen und distanzieren.
Meine Mutter äußert bei dem offiziellen Besuch des Gerichtsbeamten den Wunsch, dass sich beide Söhne um sie kümmern. Das ist gut, weil dem Richter ein einziger Ansprechpartner lieber gewesen wäre. Die formale Prozedur ist befremdlich. Eine Justizangestellte klärt mich auf über meine Pflichten und Rechte gegenüber »der Mutti«, insbesondere in Fragen, die »Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögensangelegenheiten, Vertretung bei Behörden und Ämtern und Heimangelegenheiten« betreffen. Jedes Jahr muss ich einen kleinen Bericht schreiben, Entscheidungen rechtfertigen, die finanzielle Lage offenbaren. Dafür schickt das Amtsgericht dann auch noch eine Rechnung. Ich verstehe, dass das nötig ist, und die Frau im Amtsgericht ist freundlich und recht einfühlsam.
Mit der Verantwortung für meine Mutter entscheiden mein Bruder und ich nun ganz offiziell für und im Zweifelsfall auch über sie. Ein grenzwertiges Gefühl stellt sich spätestens in dem Moment ein, als meine Mutter immer wieder Bargeld für ihr Portemonnaie verlangt, das sie regelmäßig in kürzester Zeit verlegt oder verliert.
Die erst mal einzige positive Nebenwirkung bei diesen ganzen Sorgen um meine Mutter ist die Beziehung zu meinem Bruder. Ich vertraue ihm und er mir. Wir empfinden und beurteilen ähnlich. Wir wissen beide, dass wir uns der Verantwortung stellen müssen. Es gibt keine unnötigen Diskussionen. Über unsere Sorgen reden wir eher selten. Es sind mehr oder weniger ausformulierte Eingeständnisse des Mitleids sowie der eigenen Hilf- und Ratlosigkeit. Dazu gibt es nicht viel zu sagen, nur auszuhalten.
Auch was die Aussichten für unsere eigene Zukunft anbelangt. Selbst wenn die Demenz unserer Mutter nicht zu den Formen gehört, die vererbt werden, was etwa fünf Prozent der Fälle betrifft, ist klar, dass uns schon rein statistisch ein ähnliches Schicksal bevorstehen könnte. Wer, frage ich mich, und fragt auch er sich, würde sich dann um uns kümmern? Könnten wir unsere Partnerinnen damit belasten, unsere Kinder? Wie wird es denen gehen, wo werden sie leben? Allzu große Reichtümer werden wir bis zum Rentenalter eher nicht mehr anhäufen. Lotto spielen wir nur unregelmäßig. Und auf das Sozialsystem können wir uns, so unsere Ahnung, wohl nur sehr bedingt verlassen.
»Wir brauchen eine offene Debatte.«
Der Pflegewissenschaftler Hartmut Remmers
In Berlin treffe ich Hartmut Remmers, Professor der Pflegewissenschaften in Osnabrück. Ich will mich wappnen für das, was kommt. Ich will wissen, womit ich rechnen muss, wenn die Demenz meiner Mutter weiter fortschreitet.
Remmers, ein eleganter, freundlicher Mann Mitte fünfzig , kennt solche Probleme jedoch vor allem aus wissenschaftlicher Perspektive, weniger aus dem persönlichen Erleben. Er macht keinen Hehl daraus, dass es in seinen Schubladen keine Patentrezepte gibt.
– Offensichtlich stößt die Medizin, die sich ja stark über das Machbare definiert, bei der Demenz gerade an ihre Grenzen. Es ist eben nicht alles möglich. Das kann auch mal zu einem Innehalten führen. Wir müssen unsere Ohnmacht anerkennen, uns auch mal mit dem Unverfügbaren abfinden können.
– Was bedeutet dieses Abfinden? Wie könnte es aussehen?
– Wir müssen uns bei dieser ganzen Diskussion um die Demenz mehr auf die Pflege konzentrieren. Das Problem ist da allerdings, dass die Gesellschaft vor allem das Machbare schätzt, die Pflege sich aber eher mit der Begleitung und Unterstützung angesichts des Unabänderlichen beschäftigt.
Remmers erzählt von Studien, etwa dem von Andreas Kruse und Susanne Re geleiteten DEMIAN -Projekt der Universität Heidelberg, die belegen, dass die Lebensqualität von Menschen mit Demenz durch eine zeitlich aufwendige Pflege gesteigert werden kann.
– Das Problem ist die Kommunikation mit den Betroffenen, die allerdings sehr aufwendig und emotional anspruchsvoll ist. Dafür müssen Pflegekräfte geschult werden. Menschen mit Demenz haben, auch im fortgeschrittenen Stadium, »Reste eines Selbst«, wie Andreas Kruse es formuliert, das aber mit anderen Menschen nur sehr schwer in Verbindung treten kann. Dadurch fühlen sich die Betroffenen wiederum oft isoliert, was möglicherweise Wut erzeugt, die sie nicht klar artikulieren können. Es erfordert
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