Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Ausdruck. Es geht nicht darum, dass etwas nicht ausreichend Gelerntes verschwindet. Das Selbstkonzept ist sehr gut gelernt. Das vergisst man nicht von sich aus. Man ist für das, was da passiert nicht verantwortlich. Aber irgendwann geht auch die Identität verloren. Die Personen wissen nicht mehr, wer sie sind. Sie leben nur noch im Hier und Jetzt.
Auf der langen Bahnfahrt zurück nach Berlin denke ich an meine Mutter und ich denke an mein Gehirn. Das fühlt sich gerade schwer und leer zugleich an. Vielleicht will es das ja alles gar nicht wissen, was es da abspeichern soll, und tritt in einen großen, hoffentlich nur vorübergehenden Synapsenstreik.
Pohl sprach noch vom »Kernselbst«, das nahezu bis zum Schluss bleibe. Auch in der Demenz. Bei der Beschäftigung mit ihr gibt es nicht allzu viele tröstende Ansätze. Ich bin entschlossen, die wenigen unbedingt festzuhalten.
Das betrifft auch Barthes’ Satz: »Alles, was wahrgenommen worden ist, wird umsonst wahrgenommen worden sein.« Pohl konnte damit nicht viel anfangen. »Auch bei einem nicht dementen Menschen«, sagte er, »sind am Ende 99 Prozent der Erinnerungen verloren, weil wir uns ohnehin nur an die Höhepunkte erinnern. Aber diese Erfahrungen waren doch wertvoll, haben das Leben geprägt und unser Selbst geformt. Und für die Höhepunkte brauchen wir diese 99 Prozent ›normalen‹ oder alltäglichen Erfahrungen. Sonst hätte es ja keine Unterschiede gegeben. Also waren auch diese 99 Prozent nicht umsonst.«
Erinnerungen IX
»Wie war das im Krieg und danach mit der Schule?«
»Ja, im Krieg… Im Krieg biste ja froh, wenn die Schule ausfällt. ›Huhuhu … Feueralarm! Kinder, Feueralarm! Macht euch fertig, ihr könnt nach Hause gehen!‹ Öfter bin ich dann mit meiner Freundin zu meinen anderen Großeltern gerannt, die näher an der Schule wohnten. Wenn es aber nur Feueralarm war, konnten wir noch nach Hause rennen. Da mussten wir immer über die kleine Brücke. Und da hatten sie immer Angst, die würde gesprengt. Im Bunker haben wir, glaube ich, auch Unterricht gehabt. Ja da war ich … 1945 … da war ich neun Jahre.«
»Hatte dein Vater gleich nach dem Krieg wieder Arbeit?«
»Da hat er als Heizungsmonteur angefangen. Da wollte er nicht mehr in die Fabrik zurück. Die zahlten da auch schlecht. Da gab es ja die Gewerkschaften nicht so in dem Sinn, dass die alle in einer Lohngruppe waren, dass die das gleiche Geld kriegten. Aber da ist er bei einem ›Krauter‹ gewesen, wie man so sagte, bei einem Selbstständigen. Ob er da mehr verdient hat, weiß ich nicht. Und danach ist er zu den Stadtwerken gegangen.«
Sie will nicht meckern
– Ich bin nicht deine Mutter.
– Wer bist du denn?
– Deine Schwiegermutter.
– Mhm. Könntest du dir eventuell vorstellen, dass ich dein Sohn bin?
– Mhm. Auch möglich.
So, wie meine Mutter wohl immer wieder das Gefühl haben muss, mit mir einen fremden Menschen kennenzulernen, lerne ich mittlerweile eigentlich bei jedem Besuch meine Mutter neu kennen.
Sie ist umgezogen. Ihr altes Zimmer hatten wir in sechzig Minuten ausgeräumt. Der Lieblingspfleger meiner Mutter war wie auch andere Pflegerinnen offensichtlich traurig, dass sie wegzog. Das rührte mich, zumal sie einiges mit ihr durchgemacht hatten. Als der Pfleger beim Abschied meine Mutter fragte, ob er sie mal besuchen dürfe, antwortete sie halb geschmeichelt, halb huldvoll: »Natürlich!« Sie war von den ganzen Umständen überfordert und ist es auch jetzt noch. Doch sie ist, und das rechne ich ihr hoch an, grundsätzlich neugierig und positiv gestimmt. Wieder habe ich alte Briefe und Fotos sortiert und einiges weggeschmissen. Für meine Mutter haben diese Dinge keine Bedeutung mehr. Wieder frage ich mich, was von ihrem Leben, einem Leben überhaupt übrig bleibt.
Sie sagt, dass ihr das neue Zimmer gefällt. Aus meiner Perspektive ist es vor allem praktisch. Alles, was gebraucht wird, ist da. Sie hat ein Einzelzimmer mit eigenem Bad bekommen, was nicht selbstverständlich ist. Von ihrem Balkon fällt der Blick auf eine üppig bepflanzte Kleingartenkolonie. Das ist schön, doch wirklich gemütlich fühlt es sich nicht an, trotz der eigenen Möbel und Bilder an der Wand.Das liegt sicher auch am fehlenden Teppich, der für meine Mutter vor allem eine Stolperfalle wäre. Und es liegt daran, dass meine Mutter, die sich immer mehr in sich zurückzieht, diesen Raum nicht wirklich bewohnt und belebt.
Auf der Station ist im Vergleich zu ihrem alten
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