Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
der Demenz und fehlende Gelder geht, zitiert Günther Jauch eine Umfrage, laut der neunzig Prozent der Deutschen »niemals in ein Heim« wollen.
Der eine oder andere, denke ich, wird da wohl noch seine Meinung ändern müssen und irgendwann merken, dass das Leben tatsächlich kein Ponyhof ist. Und auch in einem Pflegeheim, denke ich nicht wirklich entspannt weiter, kann man fernsehen. Sicher wird es irgendwann Spielkonsolen für Menschen mit Demenz geben, und Fußballspiele könnten gleich komplett in Superzeitlupe übertragen werden, damit alle alles mitkriegen. Bei Jauch wird auch ein Mann nach seiner Meinung gefragt, bei dem kurz zuvor eine Demenz diagnostiziert wurde. Er sagt, was er denkt, und nennt Sachs »eine Flasche«.
Meine Mutter hat vor Jahren eine Patientenverfügung unterzeichnet, aber nie ernsthaft über den Freitod als Option im Fall einer schlimmen Krankheit gesprochen. Dazu fehlte ihr womöglich der Mut. Vielleicht war es aber auch eine tiefere Erkenntnis.
In einer Gesellschaft, die bekanntermaßen der Jugend, Vitalität und Produktivität huldigt, muss eine Existenz mit Demenz zwangsläufig als ein »Restleben« mit fragwürdigem »Restwert« erscheinen. Wobei da für mich die Frage mitschwingt, ob bei einer Existenz, der von außen jeder Lebens wert abgesprochen wird, irgendwann auch das Lebens rech t infrage gestellt werden könnte. Kruse sprach davon, auch Lauter und Remmers äußerten die Sorge, dass die Auseinandersetzung mit der Demenz die »zivilisatorischen und kulturellen Selbstverständlichkeiten unserer Gesellschaft« ins Wanken bringen könne. Die Sorge, denke ich, ist begründet.
Ich besuche einen Vortrag über »Demenz und Ethik« in der Lutherstadt Wittenberg. Im Konferenzraum St. Mechthild der Bosse-Klinik sind neben mir noch fünfzehn weibliche und zwei männliche Mitarbeiter der Einrichtung erschienen. Eine elegante Frau, sie heißt Angelika Pillen, führt ins Thema ein, nennt die bösen Zahlen und verweist auf die »ausfransenden informellen Netzwerke«. Pillen hat dazu einen sehr interessanten Aufsatz im Journal für Philosophie und Psychiatrie veröffentlicht, in dem sie dafür plädiert, »sich von dem ausschließlich an den Defiziten orientierten Blick auf die Krankheit zu lösen«.
Dann stellt sie den Referenten Christian Müller-Hergel vor. Der ist staatlich anerkannter Altenpfleger, diplomierter Theologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Witten/Herdecke. Ein großer Mann mit eher wenigen, dafür aber recht wirren schwarzen Haaren. Kübler hatte mir empfohlen, Müller-Hergel zu treffen, zumal dieser auch maßgeblichen Anteil an der Verbreitung von Kitwoods personenzentriertem Ansatz in Deutschland hat.
Die Demenz, zitiert Müller-Hergel den US -amerikanischen Medizinethiker Jesse Ballenger, »kränkt das Menschenbild der weißen Mittelschicht«. Ein interessanter Gedanke, der mir weißem Mittelschichtler auf Anhieb einleuchtet, obwohl ich glaube, dass auch Menschen jenseits der weißen Mittelschicht eine Demenz nicht unbedingt mit einem freudigen »Hallo« begrüßen.
Zum Thema seines Vortrages erklärt Müller-Hergel gleich zu Beginn, dass »unklar ist, was ethisch richtig ist«. Dann erzählt er von einem Mann mit Demenz, der vorzugsweise nackt durch sein Altenheim läuft. Müller-Hergel referiert über die Frage, ob man solche Fälle aus der jetzigen oder der früheren Perspektive des Mannes bewerten solle.Ein spannender Gedanke. Ich bin froh, dass meine Mutter andere Vorlieben hat. Das Gefühl verstärkt sich, als die Rede auf ein älteres, »anarchisches Paar« kommt, das regelmäßig im Aufenthaltsraum seiner Einrichtung kopuliert. »Je freier, desto besser«, meint Müller-Hergel, räumt aber ein, dass »es da vieles abzuwägen gibt«.
Interessant sind seine Ausführungen zu Einrichtungen in der Schweiz, in denen sich Pfleger, Angehörige und Ärzte zum Teil auf allen vieren bewegen. Sie tun das aus Solidarität mit den gebrechlichen Heimbewohnern, weil diese Art der Fortbewegung gefährliche Stürze weitgehend ausschließt. Auch Müller-Hergel verweist auf Forschungsergebnisse der letzten zehn Jahre, nach denen Betroffene ihre Lebensqualität selbst entschieden höher einschätzen als Außenstehende. Dazu kommt, dass sich ein negatives Bild selbst bestätigt. Die Gefahr, mit einer Depression in die Demenz einzusteigen, ist wesentlich größer, wenn man sie ausschließlich als Horror begreift, während ein höherer Hoffnungsfaktor zu
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