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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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Heim mehr Leben, die neuen Mitbewohner sind oft auf dem Flur oder in dem hellen Aufenthaltsraum anzutreffen. Als meine Mutter das sieht und beschließt, sich »zu den anderen« zu setzen, geht mir das Herz auf.
    Der neue Hausarzt ist überrascht, wie viele Psychopharmaka sie bekommt. Eine Pflegerin sagt, man habe sie damit vorher wohl »abgeschossen«. In den nächsten Wochen gelingt es überraschend schnell, das zu reduzieren. Das sind gute Nachrichten.
    Bei einem meiner nächsten Besuche begrüßt sie mich direkt und spontan mit:
    – Hallo Jörn!
    Was früher einmal absolut selbstverständlich war, lässt mich heute vor Freude strahlen. Das betrifft auch die unter »normalen« Umständen banale Tatsache, dass sie beim Verlassen ihres Zimmers selbstständig die Tür hinter sich schließt. Wir gehen spazieren. Zwei Kilometer mit vier Sitzpausen. Die Anstrengung scheint ihr gut zu tun. Motorisch hat sie weiter nachgelassen. Trotz des Rollators sind ihre Schritte unsicher. Anstatt zu klagen, äußert sie Durchhalteparolen.
    – Bringt ja nichts. Da muss man durch.
    Meine Mutter war im Grunde immer eine Frau, die versuchte, das Beste aus einer Situation zu machen, keine Revolutionärin, aber auch niemand, der sich hängen lässt.
    Manchmal fragt sie nach Jan oder ihrem verstorbenen Bruder Joachim. Zwischen zwei Pausen sagt sie irgendwann:
    – Lange Wege im Gehege.
    – Hast du einen Wunsch?
    – Eigentlich nicht.
    – Auf was freust du dich als Nächstes?
    – Auf mein Bett.
    – Gibt es etwas, wovor du Angst hast?
    – Nein.
    Meine kleine Mutter ist sehr tapfer auf ihrer Reise. Oder sind ihre Antworten nur Floskeln, die eine Fassade aufrechterhalten sollen? Ich weiß es nicht. Zurück in ihrem Zimmer helfe ich ihr in den Sessel. Ihr schmaler Körper versinkt fast zwischen den großen, breiten Lederpolstern. Ich setze mich ihr gegenüber auf einen Stuhl, lege ihre Beine auf meine Knie. Sie schafft es nicht, sie durchzustrecken. Ihre Oberschenkelmuskeln sind steinhart. Ich massiere sie. Nach ein paar Minuten kann sie die Beine zumindest ansatzweise ausstrecken.
    – Geht es dir gut?
    – Ja. Es geht mir gut. Sehr gut.
    Ich massiere weiter. Später sagt sie ganz von selbst:
    – Danke schön.
    Dann schläft sie ein, schreckt irgendwann auf.
    – Die werden uns doch hier nicht vergessen haben?
    – Nein, die vergessen uns nicht.
    Sie lächelt, schlummert weiter. Dann fallen mir ebenfalls die Augen zu. Als ich aus meinem kurzen Schlaf erwache, hat auch meine Mutter ihre Augen wieder geöffnet.
    – Wenn man doch einfach ins Paradies könnte, die Tür aufstoßen.
    – Möchtest du das?
    – Ich weiß nicht.
    Meine Mutter wird fünfundsiebzig. Aus diesem Anlass gibt mein Bruder im Heim ein kleines Konzert. Zur Unterstützung seines Saxophonspiels hat er einen befreundeten Pianisten mitgebracht. Im Gegensatz zu seinen eigentlich eherprogressiven Musikvorlieben spielen sie Lieder mit möglichst hohem Wiedererkennungswert: »Wonderfull world«, »What a beautiful day«, »Yesterday«. Während eine der Heimbewohnerinnen mit rührender Hartnäckigkeit versucht, den Pianisten vom Klavier wegzuziehen, um mit ihm zu tanzen, bleibt meine Mutter weitgehend regungslos.
    In Pohls Buch Das autobiographische Gedächtnis fand ich ein schönes Zitat aus »Congratulation, you made it this far (The Birthday Song)« der US -amerikanischen Harfenistin Deborah Henson-Conant.
    »Wenn dein Geburtstag näherkommt und du wünschst, es wäre nicht so, und alle Freunde kommen zu dir und sagen: Oh, du wirst nicht älter, du wirst besser! Und du weißt, egal, wie viel besser du wirst, du wirst trotzdem älter. Und das passiert jedem: Du wachst eines Morgens auf, an deinem Geburtstag, und du wünschst, dass er verschwinden möge. Nun, hier ist ein Rat, was du tust, wenn dir dieser Geburtstagsmorgen passiert: Du gehst schnurstracks ins Badezimmer, schließt die Tür und schaust in den Spiegel – keine Angst! –, schau einfach in den Spiegel und schau tief in deine eigenen Augen, denn diese Augen, diese Augen sind vielleicht in einem älteren Gesicht, aber diese Augen, diese Augen sind immer noch die Augen eines Kindes. Und dieses Kind war bei dir vom allerersten Tag an, und dieses Kind, dieses Kind hat dich begleitet bei jedem einzelnen Schritt dieses Weges. Und dieses Kind benötigt, dass du ihm etwas sagst, dieses Kind benötigt, dass du ihm sagst: Glückwunsch, du hast es bis hierhin geschafft! Glückwunsch für alles, was du

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