Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
spricht da vom Peters-Prinzip: Das Vergessen geschieht selektiv. Es ist davon abhängig, wie stark eine Erfahrung mit Gefühlen verknüpft ist. Was nicht wichtig ist, landet schneller im Orkus. Oder zumindest das, was mit weniger intensiven Gefühlen verknüpft ist. Bestimmte Vokabeln, Passwörter und so weiter, die ich immer wieder mal vergesse, können ja durchaus »wichtig« sein, ich kann allerdings keine emotionale Beziehung zu ihnen aufbauen.
Nach dem Peters-Prinzip, und ich kann es ja bestätigen, halten sich von den emotionsbeladenen Erfahrungen alsodie positiv besetzten länger im Gedächtnis. Deswegen sind die »alten Zeiten« auch oft die »guten alten Zeiten«. Das ist praktisch und schön, wenn man sich nicht gerade als Sohn, Enkel oder Auszubildender ständig anhören muss, dass »früher alles besser war«.
Pohl erwähnt in seinem Buch eine Theorie, nach der jeder Mensch jedes Jahr im Durchschnitt 175200 Erinnerungen ansammelt. Auch wenn davon später nur noch ein Bruchteil verfügbar ist, wären das bei meinen siebenundvierzig Lebensjahren insgesamt 8234400 Eindrücke. Noch bevor Pohl relativiert, glaube ich, dass ich die nicht alle brauche.
– Die Zahl beruht auf Schätzungen. Es ist schwierig, das zu überprüfen. Aber die Erfahrung lehrt uns, dass wir mehr wissen, als wir denken. Wenn man dem Gedächtnis die »richtigen« Hinweisreize als Abrufschlüssel bietet, fällt einem immer noch mehr vermeintlich Vergessenes wieder ein. Auch bestimmte chemische Stoffe können da unter Umständen helfen. Es ist allerdings schwer zu sagen, wann tatsächlich alle vorhandenen Erinnerungen abgerufen sind. Einige sagen, es ist immer alles da, es braucht nur die richtige Methode, um das auch abrufen zu können. Aber da bin ich skeptisch.
Ein einfaches Bild für unser Gedächtnis lieferte bereits Platon, der es als weiche Wachsplatte beschrieb, in die bestimmte Erlebnisse im wahrsten Sinn des Wortes »eingedrückt« werden. Pohl hält diese Metapher immer noch für hilfreich, weil sie impliziert, dass es für jede Erinnerung eine physikalische Entsprechung auf der Wachstafel beziehungsweise in unserem Gehirn gibt.
– Allerdings, und da passt das Wachs-Bild dann nicht mehr, ist unser Gehirn ein lebendiges Organ, das sich permanent verändert. Während wir hier reden, bilden wir zigtausend neue Synapsen, andere gehen verloren. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem alte Erinnerungen verloren gehen, verändert oder neu interpretiert und neu zusammengesetzt werden können. Beständig sind vor allem die Erinnerungen, die zu anderen, bereits vorhandenen Eindrücken passen und mit ihnen verknüpft werden können.
Vor allen wann auch immer auftretenden Demenzen erleidet aber so gut wie jeder Mensch bereits in seiner frühesten Kindheit mit der sogenannten Kindheitsamnesie eklatante Verluste. Kleine Kinder verfügen in dieser Lebensphase zwar bereits über ein Langzeitgedächtnis, doch kann später kaum jemand auf eigene Erinnerungen aus der Zeit vor dem vierten Geburtstag zurückgreifen. Der Grund ist unklar. Ein bei vielen Wissenschaftlern beliebter Erklärungsansatz bezieht sich auf das in dieser Spanne noch kaum ausgeprägte Sprach- und Erzählvermögen, was die langfristige Abspeicherung von Erinnerungen nahezu unmöglich mache.
– Was ist mit den ersten Jahren nach der Geburt, an die ich keine konkreten Erinnerungen in Form von Bildern oder Geschichten habe? Trotzdem habe ich ja das Gefühl, als Kind geliebt worden zu sein. Gibt es so was wie ein emotionales Gedächtnis?
Pohl weist darauf hin, dass nur das autobiografische Gedächtnis, also Erinnerungen an persönliche, mit Emotionen verknüpfte Erlebnisse, nicht aber das semantische Gedächtnis mit seinem Wissen über Fakten und generelle Aspekte der Welt von der Kindheitsamnesie betroffen ist.
– Sie haben natürlich die Erfahrung gemacht, dass Ihre Mutter Sie geliebt hat. Das haben Sie zu einem Schema abstrahiert, dass Sie dieser Frau blind vertrauen können. So ein Urvertrauen entwickelt sich schon sehr früh und ist dann stark mit dieser oder auch mehreren Personen verknüpft. Wenn diese Person in Ihren Gedanken auftaucht, wird dieses Gefühl, das mit der Person verbunden ist, aktiviert. Das ist die Grundlage für eine starke Bindung.
Unsere Erfahrungen, sagt Pohl, haben für uns mehrere Bedeutungen. Einmal geht es um einen existenziellen Evolutionsvorteil. Erfahrungen werden in erster Linie dazu »benutzt, sich in der Gegenwart
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