Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
verkümmert Ihr Sprachzentrum, und Sie haben noch als Erwachsener enorme Schwierigkeiten.
Pohl weist in seinem Buch immer wieder darauf hin, dass wir unsere Erinnerungen alles andere als objektiv verwalten. Der britische Schriftsteller Aldous Huxley sagte dazu: »Erfahrung ist nicht das, was einem zustößt. Erfahrung ist das, was man daraus macht, was einem zustößt.« Zu einem großen Teil speichern wir eben nur das ab, was in unser Selbstbild passt.
– Wenn wir uns normalerweise vorwiegend an die positiven Erlebnisse erinnern und uns über diese definieren, ist dann unser Selbstbild nicht vor allem eine Illusion?
Pohl nickt.
– Ja, in gewissem Maße ist das so. Kinder haben in der Regel ein unrealistisches Selbstbild. In der Grundschule wird das dann realistischer, es ist aber immer noch zugut. Und auch als Erwachsene sehen wir uns positiver, als wir sind, und neigen dazu, uns zu überschätzen.
Verschiedenen Studien zufolge sind beispielsweise die allermeisten Autofahrer fest davon überzeugt, dass sie besser fahren als der Durchschnitt. Der Psychologe hält das für einen sinnvollen Mechanismus. Wenn wir uns immer in unserer ganzen Durchschnittlichkeit wahrnehmen würden, wäre das Gefühl gegenüber uns selbst eindeutig schlechter. Das erinnert mich an die letzten Urlaubsfotos, die ich von meiner Familie gemacht habe. Während ich die eigentlich sehr schön fand, waren meine Frau, die älteste und sogar schon die jüngste Tochter weit weniger begeistert von ihren Porträts. Das Bild, das sie von sich selbst haben, ist besser als diejenigen, die ich mit dem Fotoapparat gemacht habe. Das ist wohl auch der Grund, wieso ich lieber hinter als vor der Kamera stehe. Pohl kennt das.
– Wir lügen uns alle so ein bisschen was in die Tasche. Es sollte nur nicht zu viel werden.
Er erzählt von den Lebensrückschauen älterer Menschen, ihrer sich anpassenden Fähigkeit, auch mit einem weniger aufregenden Leben durchaus zufrieden zu sein.
– Aber es gibt da auch die Fälle, in denen mehr erhofft wurde, in denen das Gefühl vorherrscht, das Leben nicht gelebt zu haben. Das kann sehr bitter sein.
– Was wäre ich ohne meine persönlichen Erinnerungen, ohne mein autobiografisches Gedächtnis? Eine unbeschriebene Wachsplatte?
– Ein großer Teil der Platte würde auf jeden Fall fehlen. Und es wäre der psychologisch relevante Teil, der Ihre Person, Ihre Persönlichkeit ausmacht. Ihre Motorik, Ihre Sprache, Ihr semantisches Gedächtnis, Ihr Faktenwissen wären noch vorhanden. Aber Sie wüssten nicht mehr, wer Sie sind. Ihre Persönlichkeit ginge komplett verloren.
Ich muss an meine Mutter denken, deren autobiografischesGedächtnis immer größere Lücken aufweist, aber längst noch nicht verschwunden ist.
– Wer davon betroffen ist, hat auch keine emotionale Bindung mehr zu seinen Angehörigen. Für die ist das oft sehr schmerzlich, der Betroffene selbst hat dafür aber kein Bewusstsein. Der merkt das gar nicht. Für Alzheimer-Patienten ist es die schlimmste Phase, wenn sie diese Verluste am Anfang noch bewusst erleben. Danach geht es ihnen subjektiv besser. Für die Angehörigen ist das aber oft schlimm.
Auch Markus Kübler sprach davon.
– Wie kann ich mich vorbereiten?
– Als Betroffener, indem ich mit der Möglichkeit dieser Erkrankung rechne, was dazu führt, die Gegenwart intensiver zu erleben und nicht alles in die Zukunft zu verschieben, die es dann vielleicht nicht mehr so gibt, wie erhofft. Als Angehöriger, indem ich mich mit den Phasen und Besonderheiten dieser Krankheit vertraut mache, um die betroffene Person möglichst gut unterstützen zu können. Und natürlich auch, indem ich mir rechtzeitig professionelle Hilfe hole.
Für einen Moment ist es still im Raum.
– Ohne autobiografisches Gedächtnis ist die Persönlichkeit weg. Und es ist schlimm, wenn man sich an nichts Neues erinnern kann. Sie können dann auch keine neue Identität aufbauen und leben von einem Moment zum nächsten.
Wobei das Von-Moment-zu-Moment-Leben ja oft als Ideal beschrieben wird. Pohl kann damit nur wenig anfangen. Ohne den geschichtlichen Zusammenhang ergebe das Leben und der Genuss »im Moment« nur wenig Sinn, die Erlebnisqualität sei »nackt und dünn«. Ich denke an eine Wachsplatte voller Eindrücke, die immer weicher wird und zerfließt. Und ich sehe meine Mutter vor mir. Das Gespräch nähert sich dem Ende.
– Kann man sich selbst vergessen?
– »Vergessen« ist nicht der richtige
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