Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
zurechtzufinden, Probleme zu lösen und zukünftige Aufgaben besser zu planen«. Das heißt, mein Erfahrungsschatz hilft mir, mich auf meine jetzige und auch zukünftige Umwelt einzustellen. Ich weiß, dass ich, wenn ich mit dem Fahrrad auf ein Hindernis zurase, besser rechtzeitig bremse, dass ich jemanden, auf den ich angewiesen bin, nicht zu oft anschreien sollte und dass man glühende Holzkohlen eher nicht in die Hand nimmt, um mal ein paar ganz einfache Beispiele zu nennen. Wobei auch solches Wissen stärker wirkt, wenn es mit eigenen Erlebnissen und Gefühlen verknüpft ist. Ein Kind, dem man erklärt, dass es eine kleine Leiter besser vorsichtig hochklettert, merkt sich das entschieden besser, wenn es sich beim Runterfallen mal einen blauen Fleck geholt hat. Deswegen sind eigene Erfahrungen, ob nun schmerzhaft oder schön, oft einfach die besten oder zumindest die prägendsten.
Das bedeutet aber auch, dass sich jemand mit Demenz nur schwer oder gar nicht auf neue Situationen und Umgebungen einstellen kann, dass er sich kaum und immer weniger selbst schützen kann, weil der Rückgriff auf frühere Erfahrungen schwieriger wird. Wer vergessen hat, dass es sehr schmerzhaft sein kann, eine glühende Herdplatte anzufassen, erlebt womöglich eine böse Überraschung. Und wer aus dieser Überraschung nicht lernen kann, weil sich die Erinnerung nicht abspeichern lässt, erlebt eventuell kurze Zeit später die gleiche böse Überraschung noch mal. Und noch mal, und … Wodurch deutlich wird, dass Menschen mit Demenz in vielen Lebensbereichen ausgesprochen schutzlos sind.
– Daneben haben Erfahrungen eine ganz wichtige soziale Funktion. Wir tauschen uns mit unseren Mitmenschenviel stärker über unsere Erlebnisse aus als über allgemeine, abstrakte Dinge. Über unsere Erfahrungen bauen wir soziale Beziehungen auf und erhalten sie aufrecht. Wenn wir etwas gemeinsam erlebt oder gar »durchgestanden« haben, verbindet uns das viel stärker als die abstrakte Feststellung, dass man seit zwanzig Jahren ein Paar ist.
Das ist schön. Und umgekehrt auch traurig. Die gemeinsamen Geschichten und die gemeinsame Geschichte zwischen mir und meiner Mutter gehen mit ihren Erinnerungen verloren. Unsere Beziehung wird zu einer eher einseitigen Angelegenheit. So erlebe ich es.
Dazu kommt die sicher auch für mich zentrale Bedeutung sogenannter »Erinnerungsgespräche« zwischen Erwachsenen und kleinen Kindern. In denen lernt das Kind, so Pohl, »seine Erinnerungen sozial und kommunikativ adäquat zu formulieren. Das hilft bei der Ausformulierung des eigenen Selbstbildes, aber auch bei der Fundierung bedeutsamer autobiografischer Erinnerungen.«
Wobei Pohl in seinem Buch zudem darauf hinweist, dass wir bei Erinnerungen aus unserer Kindheit oft glauben, eine »echte« Erinnerung an ein Ereignis zu haben, obwohl es eigentlich eine Erinnerung aus »zweiter Hand« ist. Eine Erinnerung, die wir aus Erzählungen, Fotos oder Ähnlichem konstruiert haben, um sie nach und nach in unser autobiografisches Gedächtnis zu übernehmen. So ist das Bild, das ich von mir habe, sehr stark dadurch geprägt, was meine Mutter mir über mich erzählt hat.
– Bei allen Erfahrungen, die mich ausmachen – welche Rolle spielt die genetische Bestimmung, also die erbliche Prägung?
Pohl zuckt mit den Schultern. Die Identität entwickelt sich im Normalfall in den ersten zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren unseres Lebens.
– Alles ist genetisch determiniert, und alles ist durch unsere Erfahrungen bestimmt. Beides spielt zusammen. Die Entwicklung unseres Gehirns vor und nach der Geburt folgt nicht einfach einem genetischen Bauplan. Die Reifung hängt von den Erfahrungen ab, die wir machen.
Eine Erfahrung wird gelernt, indem die Nervenzellen neue Verbindungen miteinander eingehen, aus denen ganze Neuronenverbände entstehen. Das kann aber nur geschehen, wenn auf der Basis genetischer Informationen neue Eiweiße gebildet werden, die für diese dauerhaften Verbindungen sorgen. Allerdings wird die Umsetzung des genetischen Bauplans ihrerseits durch neue Erfahrungen entscheidend angestoßen und beeinflusst. Das heißt, dass sich durch die Erfahrung, die »Hardware des Gehirns«, wie Pohl sagt, verändert. Und mit dieser Hardware verändert sich auch unsere Sicht auf die Welt und damit unsere Persönlichkeit.
– Unsere Erfahrungen steuern, wie die genetischen Informationen in den Zellen gelesen werden. Wenn Sie im ersten Jahr nicht Sprechen lernen,
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