Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
bist!«
Nach dem Konzert schlage ich vor, spazieren zu gehen.
– Ich habe keine Lust, hin und her zu flitzen.
– Du warst doch früher immer sportlich?
– Man wird ja älter.
Sie lächelt.
– … Ach, ich will nicht meckern.
Wir finden einen Kompromiss, mit dem ich nicht wirklich glücklich bin: Ich schiebe sie im Rollstuhl zumindest in den Park hinein.
– Tut mir leid, dass du so leiden musst.
Sagt sie unterwegs.
Mascha ist dabei. Für ihre Oma buchstabiert sie immer wieder geduldig ihren eigenen Namen. Ansonsten ist sie scharf auf den Rollstuhl, mit dem sie davonrast, sobald ich meine Mutter überzeugen kann, ein paar Schritte zu Fuß zu gehen.
– Weißt du, wie ich heiße?
– Nein.
– Weißt du, wer ich bin?
– Man muss ja nicht alles wissen.
Nein, muss man nicht, obwohl …
Vielleicht, so mein Gedanke, könnte ich sie um ihre entspannte Haltung ja auch einfach mal beneiden.
»Lernen, abhängig zu sein«
Der Theologe und Altenpfleger Christian Müller-Hergel
Ein paar Wochen später lese ich in der Zeitung einen Brief:
»In den letzten Monaten habe ich durch die Lektüre einschlägiger Publikationen erkannt, an der ausweglosen Krankheit A. zu erkranken.
Ich stelle diese heute noch in keiner Weise durch ein Fehlen oder einen Rückgang meines logischen Denkens fest – jedoch an einer wachsenden Vergesslichkeit wie auch an der rapiden Verschlechterung meines Gedächtnisses und des meiner Bildung entsprechenden Sprachschatzes. Dies führt schon jetzt zu gelegentlichen Verzögerungen in Konversationen.
Jene Bedrohung galt mir schon immer als einziges Kriterium meinem Leben ein Ende zu setzen.
Ich habe mich großen Herausforderungen stets gestellt.
Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben, wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten.«
Die Zeilen schrieb der achtundsiebzigjährige Gunther Sachs, bevor sich der »letzte deutsche Playboy« erschoss.
Die »Krankheit A.«, von der Sachs in diesem Abschiedsbrief schreibt, steht für Alzheimer-Demenz. Als ich das realisiere, bin ich bei allem Respekt vor so einem existenziellen Schritt weniger geschockt als vielmehr verstört, wenn nicht gar enttäuscht. Dazu kommt meine Befremdung darüber, dass Sachs in einigen Medien und vielen Internetforen für seinen »mutigen Schritt« fast schon als Held gefeiert wird. Sachs als Vorbild? Ich muss daran denken, was Hans Lauter über die volkswirtschaftlich »wünschenswerten« Suizide und »den Teufel« sagte.
Ich rufe Hans-Georg Nehen in Essen an. Mich interessiert seine Einschätzung, immerhin wurden in seiner Memory-Clinic in den letzten beiden Jahrzehnten viele tausend Menschen auf Demenz untersucht. Ich bin überrascht, als er mir erzählt, dass ihm, bei all diesen Begegnungen, Diagnosen und Schicksalen kein einziger Suizidfall bekannt geworden ist. Abgesehen davon, äußert er auch ganz vorsichtig Zweifel an der Selbsteinschätzung von Gunther Sachs. Möglicherweise könne es sich auch um eine Depressionen mit Gedächtnisstörungen gehandelt haben, die durchaus behandelbar gewesen wäre.
– Aber wie kommt es, dass so viele in Bezug auf eine mögliche Demenzdiagnose vom Freitod oder »Selbstmord« reden, es aber kaum einer tut?
Ich höre, wie Nehen am anderen Ende der Leitung tief Luft holt.
– Ja, es hat mich auch überrascht, dass es keiner tut, wenn so viele davon reden. Vielleicht fehlt durch die Demenz der letztentscheidende Antrieb. Das wäre dann eine Art Schutzfunktion.
Er klingt ein wenig ratlos.
– Der Demente lebt ja anders und denkt anders. Und wenn er die zu so einer Tat nötige Reflektion leisten könnte, dann hätte er ja auch keine Demenz.
In einer Talkshow zum Thema liest Frank Plasberg die Reaktion eines neununddreißigjährigen Zuschauers vor: »Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als in einem Seniorenheim langsam dahinzusiechen. Die Verlierer in dieser Gesellschaft sind die Alten, die auch noch Geld kosten.« Ich fürchte, der Mann spricht aus, was viele denken. Undmit den »Alten, die in einem Seniorenheim dahinsiechen«, ist auch meine Mutter gemeint. Mehr als einmal habe ich erlebt, dass Menschen, die mit einem ähnlichen Schicksal konfrontiert wurden, sagten, dass sie so nicht leben wollen, dass sie hofften, jemand würde sie rechtzeitig von einer solchen Existenz erlösen. Das tut weh. Und es macht mich wütend.
In einer anderen Talkshow, in der es vorwiegend um Horrorszenarien
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