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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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Weltseele«, was ja nichts anderes ist als die Auflösung der Identität.
    Wenig später sehe ich im Fernsehen eine recht unterhaltsame Dokumentation der BBC über einen Journalisten, der weltweit »Experten der Erleuchtung« besucht, um so etwas wie spirituelle Erlösung zu erfahren. Erleuchtung, lernt er auf seiner Reise, ist »ohne Gedanken sein«, während Ekstase »sich selbst verlieren und sein Ich vergessen« bedeutet. Vielleicht hätte der junge Mann mal meine Mutter besuchen sollen.
    Dazu passt, was der ungarische Schriftsteller Péter Nádas der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung überseine Nahtoderfahrung nach einem Herzinfarkt erzählt: »Es war eine gute Erfahrung. Das Schlechte daran ist, dass man zurückgeholt wird. Man freut sich nicht, zurückgeholt zu werden. Man spürt sofort wieder den Druck unter dem Hintern. Es ist befreiend, keinen physischen Druck zu spüren, sondern nur Bewusstseinsinhalte, auch wenn ich weiß, dass sie sich im Nichts auflösen werden. Aber Nichts hat dann einen anderen Stellenwert als im Leben. Nichts ist nicht nichts. Es ist gut und befreiend und Glück.«
    Abels versucht eine Art Schlusswort.
    – Für den Angehörigen eines Menschen mit Demenz, der damit umgehen muss, wäre das natürlich ein schöner, tröstender Gedanke, wenn man sagen könnte, dass es dem Betroffenen ganz gut dabei geht, dass er nicht leidet, sondern eher eine Ruhe und einen Frieden erlebt.
    Ja, das ist es. Ich habe genug gehört und bedanke mich. Abels hat noch eine Zugabe.
    – Sie fragen ja schon die ganze Zeit, ob die Identität auf Erfahrung und Gedächtnis, also der Summe unserer Erinnerungen beruht. Da sage ich »ja«. Weil: Alles ist jetzt. Alles, was wir je gewesen sind, alles, was wir je gedacht haben – ist in jedem Jetzt vorhanden, selbst wenn uns das gar nicht bewusst ist.
    Ich muss lächeln, innerlich sogar lachen. Dieses »Alles ist jetzt« wird für mein Verstehen, aber auch für den Umgang mit der Demenz meiner Mutter immer wichtiger und hilfreicher.
    Beim Abschied gibt es noch eine kleine Überraschung. Abels fragt nach meiner Mutter, er erinnert sich an sie aus seiner Zeit an der Fernuniversität Hagen. Das freut mich. Er bittet mich, sie zu grüßen. Ich antworte, dass ich das ausrichten werde, aber nicht sagen kann, was davon bei meiner Mutter ankommt. Er nickt. Ein Moment Schweigen. Ich sage ihm, dass mich die Demenz verunsichert. Er nickt wieder.
    – Dass meine Mutter immer wieder versucht, sich die Welt, in der sie lebt, zu erklären, sie so neu zusammenzubauen, trotz aller Lücken, aller Brüche … Ich bewundere das auch.
    – Ja, im Grunde ist das nichts anderes, als was wir alle tun.

Erinnerungen XI
    »Wie war das am Ende deiner Schulzeit mit der Frage, was du werden willst?«
    »Meine Brüder sind ja in einen Kindergarten gegangen. Und da bin ich auch oft gewesen und da hatte ich viel Spaß. Ich wollte eigentlich Lehrerin werden. Aber das ging nicht. Ich war ja nur auf der Handelsschule und hatte kein Abitur.
    Dann sagte ich: ›Ich möchte gern Kindergärtnerin werden.‹ Meine Eltern haben das nicht geduldet, weil die Ausbildung Geld gekostet hätte. Und es war eben nicht viel da. Meine Mutter hat immer gesagt: ›Du gehst aufs Büro. Da hast du es schön. Da hast du samstags frei. Und da brauchst du keinen Laden putzen. Da bist du anerkannt!‹
    Ich hatte aber überhaupt keine Lust auf ein Büro. Und da haben die mich praktisch da rein gezwungen. Also bin ich auf die Handelsschule gegangen. Ich muss sagen, das waren die zwei schlimmsten Jahre, die ich als Mädchen erlebt habe. Da hat auch zu Hause keiner darauf geachtet, wenn ich gesagt habe ›Ich möchte das nicht‹. Da wurde mir immer nur vorgesagt, was das alles kostete. Ich weiß das noch ganz genau: 17,50 Mark Schulgeld und 7,50 Mark Fahrgeld. Das waren fünfundzwanzig Mark im Monat. Und so wie heute, dass die Kinder sagen ›Nee, ich mach was anderes‹, das hätte ich gar nicht gekonnt. Die hätten mir die Rübe abgerissen, glaube ich. Ich hab dann die Handelsschule mit Ach und Krach zu Ende gebracht. 1952, da war ich sechzehn Jahre alt. Mein Papa ist dann längs gegangen, der kannte viele Firmen. Und dann habe ich eine Lehrstelle gekriegt.«
    »Und was hast du da gelernt?«
    »Da habe ich Industriekaufmann gelernt. Das war eine kleine Firma. Da hat es mir auf einmal unheimlich gut gefallen. Da war ich so anerkannt. Die trauten mir was zu, und das hat sich auch sehr ausgezahlt. Und dann hab ich

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