Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
treten‹.«
Die Alternswissenschaftlerin Marion Bär
Die Alternswissenschaftlerin Marion Bär schreibt in einem Aufsatz über die Alzheimer-Demenz:
»Wahrgenommene Mitverantwortung dafür, dass Sinn auch im Angesicht der Demenz erfahren werden kann, äußert sich zuallererst in einer bestimmten Haltung der Anderen gegenüber den Betroffenen. Eine Haltung, die Menschen mit Demenz als Personen betrachtet, deren Dasein – gleich dem meinen – auf Sinn hin ausgerichtet ist, auch wenn es häufig nicht gelingen mag, einen konkreten Sinn in einer Handlung eines Betroffenen zu erkennen. Eine solche Haltung lässt sich nicht einfach übernehmen, sie ist das Ergebnis eines Reifungs- und Akzeptanzprozesses, der auch die Loslösung von einem rein auf Rationalität konzentrierten Menschenbild einschließt.«
Von all den Texten, die ich während meiner Recherche gelesen habe, habe ich diesen Aufsatz, der dafür eintritt, die Alzheimer-Demenz »nicht mehr ausschließlich im Licht der sich verringernden Fähigkeiten, sondern in den jeweils bestehenden Spielräumen zur Daseinsverwirklichung zu betrachten« mit den meisten Unterstreichungen, Ausrufezeichen und Kommentaren versehen. Und trotz seiner eindeutig akademischen Ausrichtung, die für einen Laien durchaus auch herausfordernd ist, hat mir kein Text so viel Trost vermittelt. Deswegen habe ich mir die Begegnung mit Frau Bär für das Ende meiner Recherche aufgehoben.
Ich schreibe ihr, bedanke mich für ihre Ausführungenund frage, ob wir uns treffen können. »Ja«, lautet die Antwort, in ein paar Wochen sei sie ohnehin in Berlin. Wir verabreden uns am Hauptbahnhof und finden dort dann einen Platz in einem Restaurant. Bär ist neununddreißig Jahre alt, schlank, wach, und dass sie klug ist, verraten ihre Texte. Einer meiner Lieblingssätze: »Menschen sind Geschöpfe, deren Denken, Fühlen und Handeln auf Sinn hin ausgerichtet sind, auch im Angesicht demenzieller Erkrankung.«
– Was bedeutet »Sinn erfahren«?
Sie lächelt.
– Was den Menschen eigentlich am Leben erhält, ist das Bedürfnis nach Sinn. Früher gab es, vermittelt durch Gesellschaft, Tradition und Religion, mehr Vorgaben, was ein sinnerfülltes Leben ausmacht. Heute muss jeder seinen Sinn selber finden. Und gelingt dies nicht, so hat das weitreichende Konsequenzen. Es gibt Menschen, die sich das Leben nehmen, weil sie keinen Sinn darin finden können.
Bär sagt fast schon entschuldigend, dass sie sich vieles selbst erarbeiten musste, da es zum Thema »Demenz und Sinn« kaum relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen gibt. Sie zitiert den Wiener Neurologen und Psychiater Viktor Frankl, der die Konzentrationslager in Theresienstadt und Auschwitz überlebte und die Logotherapie begründete: »Menschsein erweist sich besonders in solchen Situationen, wo ich trotzdem lebe.«
– Einerseits gibt es die Ebene, die ich gedanklich erfassen kann: »Erlebe ich mein Leben als sinnerfüllt?« Da kann ich eine Bilanz ziehen, die mir eine Antwort ermöglicht.
– Meine Mutter kann das nicht mehr.
– Ja. Aber das andere ist die Erfahrungsebene, die sich auf das »Jetzt« bezieht. Darauf, was ich eben in diesem Moment erfahre, dass ich mit etwas in Kontakt bin, was mir etwas bedeutet. Da geht es vor allem um Begegnung und Beziehung.
Ich muss lachen, weil ich jenseits der Bilanz, die ich gerade im Hinterkopf zu ziehen versuche, die Begegnung mit Marion Bär schon in diesem Moment als ausgesprochen sinnvoll empfinde.
– Um Sinn erfahren zu können, müssen Menschen immer wieder neu eine Beziehung zur Welt eingehen.
Es geht um die »Bedeutung der Begegnung«. Bär bezieht sich damit auf den Religionsphilosophen Martin Buber. Für Buber bedeutet Personsein die Ansprache durch ein DU . Anders gesagt: »Der Mensch wird ICH am DU .«
Angelika Pillen, die ich bei dem Vortrag von Christian Müller-Hergel kennenlernte, schreibt dazu: »Die darin offenbar werdende Angewiesenheit auf den Anderen hält Buber und mit ihm Kitwood für viel grundlegender für unser Menschsein als die von unserer Kultur in den Vordergrund gestellte Autonomie.«
Bär erläutert:
– Sinn erfahren bedeutet, dass ich mit jemand oder auch mit etwas, das mir etwas bedeutet, in Beziehung stehe. Das kann ein Mensch sein oder auch eine Tätigkeit. Frankl unterscheidet verschiedene Ebenen, auf denen Sinnerfahrung möglich ist: Im Tun, in der Begegnung, im Erleben und in der Art und Weise, wie ich mich auf eine Situation
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