Als Mrs Simpson den König stahl
habe Nishy lieb gewonnen. Als er wegging, habe ich gesehen, wie unglücklich Mum war. Und ich habe auch gesehen, wie merkwürdig Duncan sich dir gegenüber verhalten hat. Auf eine gewisse Art hat er dich geliebt, gleichzeitig aber so unfreundlich mit dir geredet. Es war fast, als würde er dich besitzen. Aber er war auch mein Vater, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir je verzeihen kann, dass ich nichts getan habe.«
Durch ihre Tränen hindurch sah May ihren Bruder an, bevor sie den Blick auf ihre Hände senkte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand sie die Hautfarbe ihrer Hände schön. Sie schob eine Hand tief in die Manteltasche ihres Bruders. Sie hoffte, die Berührung würde ihm zeigen, dass sie ihm nichts verübelte. Aber sie wollte nicht, dass Sam eine noch geringere Meinung von seinem Vater bekam. Sie wusste, dass sie ihm die ganze Wahrheit über Duncan niemals anvertrauen würde. Auch ihre Mutter hatte von Duncans heimlichen »Nippchen« zur Schlafenszeit und von der schlechten Behandlung des Mädchens, das nicht seine Tochter war, nichts gewusst, und May war froh darüber. Ihre Mutter hatte genug gelitten, und Sam sollte dieses Leid nicht für immer mit sich herumschleppen müssen.
Ihre Hände blieben verschränkt, als sie aus dem Park und zur
U-Bahn zurück gingen. Sie beschlossen, Nishy zu schreiben, dem Mann, der ihre Mutter so glücklich gemacht hatte. Sie würden an Bertha und Tom schreiben, um ihnen für ihre mutige Selbstlosigkeit zu danken. Und sie gelobten einander, Duncan, sollten sie ihn jemals wiedersehen, furchtlos gegenüberzutreten.
An diesem Abend kehrten sie erschöpft vom Crystal Palace nach Hause zurück. Nur wenige Stunden später wurde das berühmte Gebäude durch einen Brand völlig zerstört. Das riesige Feuer färbte den Himmel rot; Gerüchten zufolge war es von einer glimmenden Zigarette entfacht worden, die jemand achtlos in einen staubigen Gitterrost geworfen hatte. Die Times berichtete, mehrere hundert Meter entfernt habe man Zeitung lesen können, so hell seien die Flammen gewesen. In einem Springbrunnen, der mit herabgefallenen Steintrümmern von Statuen britischer Könige angefüllt war, seien rußgeschwärzte Goldfische gesehen worden. Noch Tage später wirbelte der Rauch über den nördlichen und den südlichen Wasserturm, die den Brand wie durch ein Wunder unversehrt überstanden hatten. Rachel schwor, sie habe gehört, wie das Dach des Ägyptischen Hofes eingestürzt sei.
»Der Mann im Radio hat gesagt, das Einsturzgeräusch sei fünf Meilen weit zu hören gewesen. Und Mrs Cohen behauptet, ihr Benjamin habe den Widerschein von der Küste aus gesehen. Hörst du mir überhaupt zu, Simon?«
Aber Simon lauschte den Nachrichten im Radio.
»Von Gebäuden verstehe ich nichts«, erwiderte er, »aber es sieht ganz danach aus, als würde etwas ganz anderes in Flammen aufgehen.«
May sagte den Greenfelds und den Castors nichts von den Enthüllungen, die der Brief ihrer Mutter enthielt. Die Neuigkeiten über Ediths Liebesaffäre allerdings verstärkten mehr denn je ihre Sehnsucht, mit Julian zu reden, aber sie wusste nicht, wann
sich eine Gelegenheit dazu bieten würde. Er hatte ihr eine Postkarte geschickt, um ihr mitzuteilen, dass er wohlbehalten in Paris angekommen sei und ihr, sobald er Spanien erreicht habe, erneut schreiben werde. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie war dankbar, dass die Arbeit für Sir Philip ihr einiges abverlangte. Sie hatte mehr Briefe und Berichte zu tippen, mehr Anrufe zu tätigen, entgegenzunehmen und durchzustellen als jemals zuvor, seit sie in seinen Diensten stand. Dazu kamen all die Fahrten von und zu den zahllosen Treffen, Mittag- und Abendessen, die Sir Philips wache Stunden in Beschlag nahmen, so dass sie die sich türmenden Sekretariatstätigkeiten immer nur zwischendurch erledigen konnte. Wenigstens hatte May keine Zeit, um der bedeutungsschweren Entdeckung ihrer Herkunft oder Julians Schweigen nachzuhängen.
Manchmal setzte sie Sir Philip vor der Downing Street Nr. 10 ab, manchmal musste sie bis spät in die Nacht vor dem Parlamentsgebäude warten, bis er mit noch besorgterer Miene wieder heraustrat. Am Donnerstag, dem 3. Dezember, gelangte die Geschichte von der »Angelegenheit des Königs«, ausgelöst von einem redseligen Geistlichen, schließlich in die Tageszeitungen.
Der Bischof von Bradford hatte der Diözesankonferenz die Frage vorgelegt, ob der König wirklich ein
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