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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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können.«
    May war froh, wieder zu Hause in der Oak Street zu sein. Sie genoss es, aus dem Fenster ihrer Dachkammer zu schauen und die Straßenszenen zu beobachten. Mrs Cohen von gegenüber scheuerte die Stufe vor ihrer Haustür. Sie war so mager, wie ihr Mann fleischig gewesen war. Mrs Smith von nebenan machte sich ebenso emsig an ihrer eigenen Türstufe zu schaffen. Der Stolz dieser Frauen sorgte dafür, dass Standards auch dann noch eingehalten wurden, wenn die Witwenschaft ihnen jegliche Lebensfreude ausgetrieben hatte. Niemand in der Straße hatte Mr Smiths verzweifelten Sprung in den Fluss vergessen, an den Händen die beiden arglosen Kinder. Es war allgemein bekannt, dass eine gütige Frau, die über dem Fleischer wohnte, sich der unerwünschten Schwangerschaft angenommen hatte, von der die Tragödie ausgelöst worden war.
    »Hat nicht viel Geld dafür verlangt, wo wir doch alle in derselben Nachbarschaft leben«, hatte Mrs Smith Rachel mitgeteilt und ihr Schicksal rührend angenommen.
    Am folgenden Tag um die Mittagszeit waren die Kinder in
der Schule, während die Eltern arbeiteten oder im Haushalt zu tun hatten. In den Straßen war es ungewöhnlich ruhig. In der Oak Street Nummer 52 war außer May niemand zu Hause. Als es zwei Mal an die Tür klopfte, nahm May mit geübter Geschwindigkeit die Sprossen ihrer Dachkammerleiter und sprang die Treppe hinunter. Sie hegte stets die unwahrscheinliche Hoffnung, dass Julian von Spanien genug haben und wie schon einmal aus heiterem Himmel in der Oak Street auftauchen könnte.
    Vor der Tür stand Sam.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie ihn, als er ihr ins Haus folgte. »Du siehst so blass aus.«
    »Hättest du etwas dagegen, wenn wir rausgingen?«, fragte er sie. »Ich möchte mit dir reden. Aber nicht hier. Irgendwo, wo wir allein sind. Vielleicht hast du ja Lust, einen Ausflug nach Sydenham zu machen? Wir könnten uns den Crystal Palace anschauen. Wenn wir uns beeilen, könnten wir den Zug nach Forest Hill erwischen und würden noch bei Tageslicht ankommen.«
    May erholte sich rasch von ihrer Enttäuschung, dass Sam nicht Julian war, und ging ihren Mantel holen. In jüngster Zeit hatte sie ihren Bruder nur selten gesehen. Für die Tage vor Joshuas Geburt hatte er keinen Heimaturlaub bekommen und das ganze Drama des Mosley-Marsches verpasst.
    Als sie in Forest Hill ankamen, setzten sie sich in einem Park auf eine Bank, von der aus sie Paxtons atemberaubenden Glasbau sehen konnten. Das Gebäude war als Vorzeigeprojekt für Königin Victorias Weltausstellung entworfen worden und seit achtzig Jahren der Stolz Londons. Bruder und Schwester starrten voller Bewunderung auf das größte und schönste Gewächshaus, das sie je gesehen hatten. Dann griff Sam tief in die Tasche seines marineblauen Mantels und zog einen weißen Umschlag voll schmieriger Fingerabdrücke hervor.
    Auf der Vorderseite standen in einer Handschrift, die May und Sam vertraut war, seit sie sie erstmals auf dem Vorsatzblatt ihrer ersten Schulbücher gesehen hatten, die Namen May Gladys
Thomas und darunter Sam Benjamin Thomas. May blickte ihren Bruder verwirrt und beunruhigt an.
    »Ein Freund, eigentlich kennst du ihn. William? Vom Frachtschiff? Nun, er hat ihn letzte Woche mit herübergebracht und in Liverpool aufgegeben. Gestern kam er in meiner Bude in Portsmouth an«, erklärte Sam. »Bertha hatte sich mit William in Verbindung gesetzt. Nach Mutters Tod hatte sie all ihre Sachen sortiert und war auf diesen Brief gestoßen. Anscheinend befand er sich in einem Karton mit einem riesigen Stapel Briefe, die in Indien abgestempelt waren. Bertha wusste, dass William ein Freund von mir ist, da hat sie ihn gebeten, den Brief bei seiner nächsten Überfahrt nach England mitzunehmen.«
    In den vergangenen Monaten hatte Mays Kummer nachgelassen, erschöpft wie ein kraftloser Schmetterling, der mit den Flügeln gegen ein geschlossenes Fenster schlägt. Der Anblick der mütterlichen Handschrift drohte den abklingenden Schmerz wiederzubeleben.
    »Du öffnest ihn«, sagte Sam aufmunternd. »Dein Name steht zuoberst. Mädchen zuerst.«
    Das Siegel auf dem Umschlag ließ sich leicht und säuberlich brechen. Das Datum oben auf der Seite war das Datum ihrer Abreise nach England im Dezember 1935. Sam rückte näher an May heran, und sie begann vorzulesen.
     
    Meine geliebten Kinder,
    ich weiß nicht, unter welchen Umständen Ihr diesen Brief lesen werdet, falls Ihr ihn überhaupt jemals lesen werdet. Ich wünschte, ich

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