Als Mrs Simpson den König stahl
Welt tust du da?«, rief Evangeline und versetzte Wallis einen kräftigen Stoß, der die Freundin zurücktaumeln
ließ. Plötzlich wurde die erdrückende Intimität des Schlafzimmers unerträglich, und Evangeline stürzte zur Haustür.
In all den Jahren hatte jenes schreckliche Missverständnis in ihren Gedanken nachgehallt, und anfangs hatte sie sich insgeheim geschworen, mit ihrer alten Freundin nichts mehr zu tun haben zu wollen. In Baltimore war ihr zu Ohren gekommen, dass Wallis und Win geschieden worden waren und Wallis danach einen englischen Reeder namens Ernest Simpson geehelicht hatte. Seit dem unglücklichen Vorfall in Wallis' Schlafzimmer waren Evangeline und Wallis einander nicht mehr begegnet, und in ihren sporadischen Briefen war er nie erwähnt worden.
Vielleicht würde das alles sich jetzt ändern, überlegte Evangeline, als sie dem Umschlag mehrere zusammengefaltete Bögen entnahm. Der Briefkopf war ihr unbekannt. Hatten sich Wallis und ihr neuer Mann mit einer Militärfamilie angefreundet? Was für Leute wohnten in einem Fort? Die Engländer und ihre altmodischen Gepflogenheiten waren immer für eine Überraschung gut! Trotz des Schlafzimmervorfalls konnte Evangeline nicht umhin, sich auf Wallis' Briefe zu freuen. Sie waren immer so amüsant. Mit ihrer Abneigung gegen die klumpigen englischen Kopfkissen und ihrem Unbehagen angesichts der komplizierten Tischsitten hatte Wallis Evangeline zum Lachen gebracht. Weshalb zum Beispiel fielen die Briten über ihr Essen her, sobald es ihnen vorgesetzt wurde, als hätten sie nicht erst vor einer Stunde etwas gegessen?
»Oh bitte, langen Sie zu«, rief die Gastgeberin dann offenbar über den Tisch, selbst wenn die Runde des Butlers noch gar nicht beendet war und die Hälfte der Gäste nichts hatte, wonach sie langen konnten.
Wallis hatte auch geschrieben, wie erleichtert sie sei, einen neuen Ehemann gefunden zu haben, noch dazu einen halben Engländer, einen Mann, mit dem sie sich gut verstehe. Ihr Umzug in die heimatliche Grafschaft seiner Mutter und das Vergnügen, das sie bei der Auswahl antiker Möbel für ihre kleine Woh
nung empfanden, hatte Evangeline darin bestätigt, dass diese zweite Ehe eine gute Entscheidung gewesen war.
Auch den Schmutz der Hauptstadt hatte Wallis beschrieben: wie die nach Schwefel riechende »Londoner Erbsensuppe«, jener grünliche Smog, den die Einwohner Londons den »besonderen Nebel« nannten, in den Straßen der Stadt die Sicht einschränkte, sodass man, wenn man nicht angestrengt direkt am Eingang nachschaute, die Hausnummern nicht erkennen konnte. Sie erzählte, wie der rußige Smog der Kohlenfeuer, den die Schornsteine der Stadt Tag und Nacht ausstießen, von den Dieselabgasen einer zunehmenden Zahl von Fahrzeugen auf den Straßen verstärkt wurde. Was noch wichtiger war, Wallis konnte den Staub und Dreck nicht ertragen, der den Weg ins Innere der Häuser fand.
Schmutz und Chaos passten einfach nicht zu Wallis. Die Fotos, die sie ihren Briefen mitunter beifügte, bestätigten, dass alles an Wallis sauber und ordentlich war; sie war so selbstsicher wie ein auf einem Bein stehender Flamingo. Die attraktive Welligkeit ihrer jugendlichen Haarfrisur war längst verschwunden. Stattdessen war sie in jeder Hinsicht straff und schnittig: von der schönen Symmetrie ihres mittigen Scheitels bis zu der Präzision, mit der sie in ihren schicken, eng anliegenden Kleidern vor der Kamera posierte. Offenbar waren selbst ihre nachgezeichneten Augenbrauen, die sich zu einem Lächeln zu verziehen schienen und die ansonsten leere Fläche ihrer breiten Stirn belebten, strengen Diätvorschriften unterworfen. Auf der Schule hatten ihr einige der Mädchen den Spitznamen »Skellis« verpasst. Evangeline versuchte, nicht allzu lange über den Namen nachzudenken, den sie womöglich ihr gegeben hatten, wenn sie nicht im Klassenzimmer weilte, aber ein Skelett war sie ganz gewiss nicht.
Evangeline lehnte sich weiter in den mit ausgebleichtem blauem Samt überzogenen Sessel am Kaminfeuer zurück. Wie immer lag das silberne Papiermesser griffbereit auf dem Tisch ne
ben ihr. Ein erschrockenes Miauen unter ihr gab ihr zu verstehen, dass sie sich auf das neue Kätzchen gesetzt hatte; sie zog das winzige Tier unter dem Kissen hervor und war erleichtert, als es sich schüttelte und gelassen auf die Tür zuhielt. Sie glättete die gefalteten Bögen blauen Briefpapiers und begann zu lesen. Wallis wollte Evangeline um einen Gefallen bitten. Sie erwähnte
Weitere Kostenlose Bücher