Als Mrs Simpson den König stahl
Eastbourne
Sussex
10. Dezember 1935
Meine liebe Evangeline,
wir haben Dich schon so lange nicht mehr gesehen. Unser Vorhaben, in die Vereinigten Staaten zu reisen, wird immer wieder von Philips zahlreichen parlamentarischen Verpflichtungen vereitelt. Aber kürzlich war ich bei einer Abendgesellschaft und unterhielt mich mit einer alten Schulfreundin von Dir. Ich glaube, Du kennst sie unter dem Namen Wallis Warfield, obwohl Du vielleicht nicht weißt, dass sie nach ihrem Schulabgang geheiratet hat (sogar zwei Mal!). Miss Warfield wurde Mrs Spencer, und kurz nach ihrer Scheidung (die sehr schmerzlich gewesen sein muss, weil er trank) heiratete sie einen Ernest Simpson, der Halbamerikaner ist und eine englische Mutter hat. So heißt Deine Freundin inzwischen Mrs Simpson.
Obwohl sich Wallis und Ernest schon vor ein paar Jahren hier niedergelassen haben, kenne ich sie nicht gut. Im Laufe unseres Gesprächs an jenem Abend hatte ich den Eindruck, dass Wallis, obwohl ihrem Mann sehr zugetan, ein wenig einsam ist und bestimmt sehr erfreut wäre, wenn sie hier in England eine bekannte
Seele träfe. Ja, als ich Deinen Namen erwähnte und Dich eine langjährige Freundin unserer Familie nannte, bekam sie glänzende Augen.
Ich habe mich gefragt, liebes Kind, ob Du nicht vielleicht gleich mehrere Menschen glücklich machen könntest, wenn Du uns einmal wieder etwas länger besuchen kommst. Ich weiß natürlich, wie es um deine finanzielle Situation bestellt ist. Vielleicht hat die letzte Krankheit Deiner Mutter ihr Gemüt zu schwer belastet? Ich hoffe, Du stimmst mit mir darin überein, dass für ihr ansonsten unerklärliches Versäumnis, Dich in ihrem Testament zu bedenken, nur ihr schlechter Gesundheitszustand verantwortlich zu machen ist.
Wie auch immer, meine Liebe, ich lege einen kleinen Scheck bei, der Dir vielleicht die Entscheidung erleichtert, eine Überfahrt auf dem ersten Schiff zu buchen, das nach Weihnachten Richtung England fährt. So könntest Du zu Beginn des neuen Jahres bei uns sein. Ich höre schon Deine Einwände, aber Du musst wissen, dass es sich um einen Akt reiner Selbstsucht meinerseits handelt, da das Vergnügen, Dich bei uns zu haben, vor allem das meinige sein wird. Und wenn Du nur lange genug bleibst, kannst Du im Sommer auf dem neuen Ozeanriesen der Cunard-Reederei wieder nach Hause fahren. Wie ich höre, hat die Queen Mary sogar ein Deck zum Ausführen von Hunden, sodass Du Wiggle mitbringen könntest (wenn wir darauf achten, die lästigen Quarantänevorschriften zu vermeiden; eine geeignete Decke wäre rasch zur Hand!). Und wenn ich andeuten darf, dass Du womöglich feststellen wirst, wie sehr Du Dich amüsierst, könntest Du Deinen Aufenthalt sogar über die Sommersaison hinaus ausdehnen. Es gibt immer so viele lustige Feste, auf die man gehen kann, und als Ehrenmitglied unserer Familie wärst Du willkommen, Dich an allem zu beteiligen.
Ich weiß, dass Du es für Dich behalten wirst, wenn ich Dir anvertraue, dass ich unlängst eine meiner düstersten Stimmungen durchgemacht habe. Philip meint, dass ein weiterer Krieg durch
aus möglich sei, und ich glaube nicht, dass ich das alles noch einmal durchstehen könnte, besonders, weil Rupert im kommenden Sommer von Oxford abgeht und genau das richtige Alter hat, um eingezogen zu werden. Ich bete, dass es nicht so weit kommt. Aber wenn Du mir schreibst und zusagst, uns besuchen zu kommen, wirst Du Philip und mir das schönste aller verspäteten Weihnachtsgeschenke machen.
Ich schließe wie immer mit einem Kuss von uns beiden,
Deine Dich liebende Patentante
Joan
Die Blunts und die Nettlefolds kannten sich schon sehr lange. Evangelines Mutter und Joan hatten sich im Sommer 1894 in England kennengelernt, als noch Königin Victoria auf dem Thron saß. Auf einer Rundreise durch Europa hatte Mrs Nettlefold London besucht und war dort der achtzehnjährigen Debütantin Lady Joan Bradley begegnet, die als eine von drei Töchtern eines Earls ihren Titel von Geburt an trug. Bei einer Modenschau im Maison Lucile in Mayfair hatten sie auf goldenen Stühlen nebeneinandergesessen. In diesen neuen Salon strömten seinerzeit im Gefolge von Lillie Langtry, der eleganten Mätresse des Prinzen von Wales, viele Damen der besseren Gesellschaft. Jener Tag, an dem sie anzüglich durchsichtige Nachmittagskleider erstanden und Madame Luciles Crêpe de Chine und rosa Seidenunterwäsche bestaunt hatten, war der Beginn einer langanhaltenden
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