Als Mrs Simpson den König stahl
Freundschaft zwischen der jungen Dame der Gesellschaft und der kontaktfreudigen und sozial ambitionierten amerikanischen Touristin. Nachdem Evangelines Mutter ein, zwei Jahre später einen reichen Verehrer gefunden hatte, der gewillt war, gleich mehrere Rollen zu spielen, Bankier, Ehemann und Vater, brachte sie Frank und danach Evangeline zur Welt. Die beiden Patinnen, die dazu ausersehen wurden, für Evangelines spirituelles Wohl zu sorgen, waren Madame Lucile, die Evangeline ihre Liebe zur Mode vermachte, und Joan, die ihr eine zaghafte
Zuneigung zu England einflößte. So reizend das Land auch war, hatte Evangeline doch stets das Gefühl, dass das Wetter und ein gelegentlicher Hang zur Unfreundlichkeit ihm einen schlechten Dienst erwiesen.
Die Familien Blunt und Nettlefold waren brieflich und durch Reisen über den Atlantik in Kontakt geblieben, obwohl das Vermögen der beiden Patinnen im Krieg stark gelitten hatte. Madame Lucile, die einstige Königin der Modewelt, war zum Bankrott gezwungen, ihre duftig-leichten edwardianischen Nachmittagskleider waren nicht mehr en vogue , und sie starb einsam und verarmt in einem möblierten Zimmer in Süd-London. Über Evangelines andere Patin war das Unglück schon viel früher hereingebrochen. Zu Beginn des Krieges, im reifen Alter von achtunddreißig Jahren, hatte Joan einen erfolgreichen Politiker geheiratet und brachte bald darauf, im Jahr 1915, ihren Sohn Rupert und im folgenden Jahr ihre Tochter Bettina zur Welt. Doch nur einen Monat vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands im Jahre 1918 schlug eine verirrte Granate mit ungeheuer zerstörerischer Gewalt in den Körper ihrer geliebten jüngeren Schwester Grace ein. Die Krankenschwester war in Ypres an vorderster Front stationiert gewesen, und trotz der verzweifelten Suche nach ihr konnten ihre Überreste nie gefunden werden. Dieser Verlust hatte Joans emotionales Gleichgewicht für immer gebrochen. Fast zwanzig Jahre später litt Joan, inzwischen sechzig Jahre alt, noch immer unter Anfällen tiefer Depression. Manchmal wusste ihr Mann, Sir Philip, einfach nicht mehr, wie er Joans sonniges und zugleich tüchtiges Gemüt wiederbeleben sollte, in das er sich zuallererst verliebt hatte.
Auch Evangeline kannte das Gefühl, den Sinn des morgendlichen Aufstehens zu hinterfragen und in Zweifel zu ziehen, ob es sich überhaupt lohnte, sich zu waschen, sich anzukleiden, sich die Haare zu bürsten oder mit einer lebendigen Seele zu sprechen. Doch indem sie sich mit Essen und Einkaufen betäubte, überlistete Evangeline den unmittelbaren Schmerz. Ih
ren Hang zur Verzweiflung bekämpfte sie, indem sie es sich zur Gewohnheit machte, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern. Verantwortung zu übernehmen löste in Evangeline das Gefühl aus, gebraucht zu werden und ein wertvoller Mensch zu sein.
Aber sollte sie wirklich zu Joan fahren? England im Winter war nun wahrlich keine verlockende Aussicht. Schon ihre letzte Reise vor fünf Jahren, anlässlich des Besuchs ihrer Mutter in Royal Ascot, hatte sich wegen des Mangels an männlicher Gesellschaft und des unaufhörlichen Nieselregens als höchst unerfreulich erwiesen. Trotz Joans großzügiger Einladung zweifelte Evangeline daran, ob es in England wirklich etwas gab, was die Mühe lohnte.
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Einige Tage später traf mit der letzten Weihnachtspost ein weiterer Brief mit englischer Briefmarke für Evangeline ein. Sie nahm eine Handvoll glasierter Mandeln aus der gläsernen Schale auf dem Garderobentisch und untersuchte den Umschlag sorgfältig, bevor sie das silberne Messer mit der Blumengravur zur Hand nahm, um ihn zu öffnen. Der geschwungene Bogen, der den ersten Buchstaben jedes Wortes abrundete, versetzte sie zurück in ihre Schulzeit, als sie das Internat Oldfields in Baltimore besuchte und die Lehrer ihnen gegenüber oft das Schulmotto zitierten: »Von Mädchen werden jederzeit Sanftmut und Höflichkeit erwartet.«
Zuverlässig fand sich an seinem Platz in der oberen linken Ecke des Kuverts das umkringelte, unterstrichene und mit einem Bindestrich versehene Kennwort, jenes Wort, das Wallis und sie schon in ihren Teenagerjahren in ihrem gemeinsamen Briefverkehr verwendet hatten. In der Schule war es üblich gewesen, dass beste Freundinnen einen Teil ihres jeweiligen Vornamens miteinander verflochten; die mittlere Silbe von Evangeline und die letzte Silbe von Wallis hatten Gel-Lis ergeben. Wenn sie das Kunstwort aussprachen, hatten die beiden immer lachen müssen, weil es
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