Als Mutter verschwand
erschreckt. Danach bin ich nicht mehr zu dir gekommen. In Wahrheit weià ich gar nicht, wo dieses Santiago ist, und will auch nicht hin.
Was wird aus all den Augenblicken, die man mit jemandem verbracht hat? Eigentlich wollte ich dich das fragen, aber schlieÃlich habe ich meine Tochter gefragt. Sie hat gesagt: »Das klingt komisch aus deinem Mund, Mama.« Und dann: »Ich glaube, sie verschwinden nicht völlig, sondern flieÃen in die Gegenwart ein.« So was Kompliziertes! Verstehst du das besser als ich? Sie meint, dass das Früher im Jetzt drinsteckt, auch wenn wir es nicht merken, dass das Vergangene sich mit dem Jetzt vermischt und das Jetzt mit dem, was kommt, und das wiederum mit dem Vergangenen ⦠aber jetzt wirdâs zu verwirrend.
Und du? Glaubst du, dass das Jetzt mit dem Vergangenen zusammenhängt und mit dem, was mal kommt, und dass wir es nur nicht merken? Ich weià nicht, kann das sein? Wenn ich meine Enkelkinder angucke, habe ich manchmal das Gefühl, sie sind einfach vom Himmel gefallen und haben nichts mit mir zu tun. Rein gar nichts.
Das Fahrrad, auf dem du damals gefahren bist, war auch gestohlen. Als du mich mit der Mehlschüssel auf dem Kopf an der StraÃe gesehen hast, wolltest du dieses gestohlene Fahrrad verkaufen, um es gegen einen Strang Seetang einzutauschen. Stand das alles irgendwo geschrieben? Und dass du das Rad, weil du es dann doch nicht loswurdest, wieder dahin gestellt hast, wo du es her hattest, dabei aber von dem Mann, dem das Rad gehörte, erwischt wurdest und Ãrger bekamst? Haben all diese Sachen im Fluss der Zeit uns bis hierhin geführt, zu dem, was jetzt ist?
Ich weiÃ, dass du nach mir gesucht hast, nachdem ich verschwunden bin. Ich weiÃ, dass du, der du noch nie in Seoul warst, am Hauptbahnhof ausgestiegen und mit der U -Bahn herumgefahren bist und jede Frau angehalten hast, die mir ähnlich sah. Und dass du oft bei meinem Haus warst, weil du gehofft hast, irgendwas Neues über mich zu erfahren. Dass du gern meine Kinder getroffen hättest, um zu hören, was passiert war. Hat dich das so krank gemacht?
Du heiÃt Eun-Gyu Lee. Wenn der Arzt dich wieder nach deinem Namen fragt, sag nicht: »So-Nyo Park.« Sag: »Eun-Gyu Lee.« Ich werde dich jetzt loslassen. Du warst mein Geheimnis. Du warst ein Teil meines Lebens, von dem niemand etwas ahnt. Du warst das rettende FloÃ, das mir geholfen hat, nicht in den reiÃenden Strudeln des Lebens zu versinken. Ich war so froh, dass du da warst! Ich bin hierhergekommen, um dir zu sagen, dass ich meine Lebensreise nur deshalb geschafft habe, weil ich zu dir kommen konnte, wenn es mir schlecht ging, und nicht, wenn es mir gut ging.
Jetzt muss ich gehen.
Das Haus ist eisig.
Warum ist das Tor abgeschlossen? Man hätte es offen lassen sollen, damit die Nachbarskinder rüberkommen und hier spielen können. Kein bisschen Wärme geht von diesem Haus aus. Es ist wie ein Eisblock. Niemand hat den Schnee weggefegt, obwohl alles dicht verschneit ist. Der Hof ist so weiÃ, dass es blendet. Ãberall hängen Eiszapfen. Früher haben die Kinder immer die Eiszapfen abgebrochen und damit Schwertkampf gespielt. Ich nehme an, hier schaut niemand vorbei, weil ich nicht mehr da bin. Es ist lange her, dass hier jemand war. Das Motorrad meines Mannes ist im Schuppen aufgebockt. Es ist auch völlig eingefroren. Ich wollte, er würde nicht mehr Motorrad fahren. Wer fährt denn in seinem Alter noch Motorrad? Hält er sich etwa immer noch für jung? Da, jetzt meckere ich schon wieder. Andererseits sieht er auf deinem Motorrad wirklich umwerfend aus, gar nicht wie ein Bauer. Wenn er als junger Mann mit dem Motorrad in den Ort gefahren ist, in seiner Lederjacke und mit Pomade im Haar, haben ihm alle nachgeschaut. Irgendwo muss doch ein Foto von damals sein ⦠über der Schlafzimmertür ⦠Da ist es ja. Als es gemacht wurde, war er keine dreiÃig. Sein Gesicht ist noch voller Leidenschaft, das ist jetzt nicht mehr so.
Ich weià noch, wie das erste Haus aussah, in dem wir gewohnt haben, bevor das neue gebaut wurde. Dieses Haus habe ich geliebt. Obwohl â »geliebt« drückt vielleicht nicht alles aus, was ich empfunden habe. Vierzig Jahre haben wir in dem Haus gewohnt, das es jetzt nicht mehr gibt. Ich war immer in diesem Haus. Immer. Er war mal da und mal nicht. Wenn er weg war, habe ich nichts von ihm gehört. Es war, als ob
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