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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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kein Wort gesagt. Ich versuchte, die schwarzen Gedanken zu verscheuchen, aber jeden Tag kamen neue dazu. Mitten im Winter habe ich dauernd meine Hände in Eiswasser gewaschen. Schließlich ging ich eines Tages in die Kirche. Auf dem Kirchhof blieb ich am Fuß der Muttergottes stehen, die ihren toten Sohn in den Armen hält. Ich wollte sie anflehen, mich aus dieser unerträglichen Düsternis herauszuholen. Aber dann habe ich mir auf die Zunge gebissen, weil ich dachte: Wie kann ich irgendwas von einer Frau verlangen, die ihren toten Sohn in den Armen hält? Während der Messe saß vor mir eine Frau, die einen schwarzen Nerzmantel trug. Er sah so weich aus, dass ich automatisch das Gesicht hingebeugt habe. Der Nerz hat mein altes Gesicht so sanft gestreichelt wie ein Frühlingslüftchen. Die Tränen, die ich zurückgehalten hatte, strömten plötzlich. Die Frau rückte weg, als ich den Kopf an ihren Nerzmantel legte. Zu Hause habe ich meine jüngere Tochter angerufen und sie gebeten, mir einen Nerzmantel zu kaufen. Das war das Erste, was ich seit zehn Tagen sagte.
    Â»Einen Nerzmantel, Mama?«
    Â»Ja, einen Nerzmantel.«
    Sie sagte nichts.
    Â»Kaufst du mir einen oder nicht?«
    Â»Dieses Jahr ist es doch gar nicht so kalt. Hast du denn überhaupt Gelegenheit, einen Nerzmantel zu tragen?«
    Â»Ja.«
    Â»Willst du irgendwo besonderes hin?«
    Â»Nein.«
    Sie lachte über meine knappen Antworten. »Na gut, komm nach Seoul. Dann gehen wir zusammen einen kaufen.«
    Als wir in der Kaufhausabteilung mit den Nerzmänteln waren, schaute meine Tochter mich immer wieder an, ohne was zu sagen. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Nerzmantel, der ein bisschen kürzer war als der von der Frau in der Kirche, so viel Geld kostete. Meine Tochter hat es mir nicht gesagt. Als wir mit dem Nerzmantel nach Hause kamen, fielen meiner Schwiegertochter fast die Augen aus dem Kopf. »Ein Nerzmantel, Mutter!«
    Ich sagte nichts.
    Â»Hast du ein Glück! Dass du eine Tochter hast, die dir so was Teures kaufen kann! Ich konnte meiner Mutter nicht mal eine Fuchsstola kaufen. So ein Nerz wird doch angeblich über Generationen weitervererbt. Wenn du stirbst, vererbst du ihn dann mir?«
    Â»Jetzt hör aber auf! Das ist das erste Mal, dass Mama mich gebeten hat, ihr etwas zu kaufen.«
    Als meine Tochter ihre Schwägerin wütend anfauchte, wurde es mir klar. Warum sie immer wieder das Preisschild gelesen hatte. Warum sie mich so angeschaut hatte. Damals hatte sie gerade Examen gemacht und arbeitete in einer Krankenhausapotheke. Als ich wieder zu Hause war, ging ich mit dem Nerzmantel in ein ähnliches Geschäft im Ort und fragte die junge Frau in der Pelzmantelabteilung, was so was kostet. Wer hätte gedacht, dass ein Kleidungsstück so viel Geld kosten kann! Ich rief meine Tochter an und sagte, wir müssten den Mantel zurückbringen, aber sie sagte: »Du hast diesen Mantel verdient, Mama. Also trag ihn.«
    In unserer Gegend gibt es nur wenige richtig kalte Wintertage, also konnte ich den Nerzmantel nur selten anziehen. Einmal habe ich ihn drei Jahre nicht getragen. Aber wenn ich so düstere Gedanken hatte, habe ich den Schrank aufgemacht und mein Gesicht in den Nerzmantel geschmiegt. Und mir gesagt, wenn ich sterbe, soll ihn meine jüngere Tochter zurückbekommen.
    Jetzt ist zwar alles gefroren, aber im Frühling wird der Blumengarten an der Mauer wieder zum Leben erwachen. Der Birnbaum von den Nachbarn wird blühen, und der Duft wird zu uns rüberwehen. Die Kletterrosen mit den hellrosa Knospen werden jubelnd ihre Dornen recken. Ein ordentlicher Frühlingsregen, und an der Mauer wird das Unkraut aus dem Boden schießen. Für gewöhnlich habe ich unter der Brücke im Ort dreißig Entenküken gekauft und sie im Hof frei laufen lassen, und sie sind in den Blumengarten gerannt und über alle Blumen weggetapst, und wenn sie in einer Schar mit den Hühnerküken herumgelaufen sind, konnte man kaum unterscheiden, was Entchen waren und was Hühnchen. Da war was los im Hof! Einmal hat meine Tochter aus Versehen eins getötet. Sie hatte unterm Rosenstrauch Dünger untergehackt, weil sie meinte, dann würde die Rose üppiger blühen, und als sich ein dicker Wurm aus der Erde schlängelte, hat sie die kurze Hacke weggeworfen und ist ins Haus gerannt. Die Hacke hat eins der Hühnerküken getroffen.
    Ich erinnere mich

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