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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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ich in den Spiegel vom Kleiderschrank schaute, nachdem ich ein totes Kind geboren hatte. »Meine Kleine«, sagt Mama und breitet die Arme aus. Sie fasst mich unter der Achsel und nimmt mich auf den Schoß, als ob sie ein Kind hält, das gerade gestorben ist. Sie zieht mir die blauen Plastiksandalen aus und hebt meine Beine über ihr Knie. Mama lächelt nicht, weint aber auch nicht. Hat sie’s gewusst? Dass auch ich mein Leben lang Sehnsucht nach meiner Mutter hatte?

Epilog
Der Rosenholz-Rosenkranz
    Neun Monate ist es jetzt her, dass Mama verschwunden ist.
    Du bist in Italien, im Vatikan.
    Du sitzt auf einer Marmortreppe mit Blick auf den Petersplatz und betrachtest den Obelisken aus Ägypten. Der Fremdenführer hat Schweißperlen auf der Stirn und ruft: »Hierher, bitte!« Er dirigiert die Gruppe in den Schatten am Fuß der Treppe, in der Nähe des riesigen Pinienzapfens. »In den Museen und im Petersdom sind nicht autorisierte Führungen verboten, darum erkläre ich Ihnen das Wichtigste, bevor wir hineingehen. Ich verteile jetzt Kopfhörer, also hören Sie bitte zu.«
    Du nimmst den Kopfhörer, setzt ihn aber nicht auf. Der Fremdenführer fährt fort: »Wenn Sie über den Kopfhörer nichts hören, haben Sie sich zu weit von mir entfernt. Es ist so voll hier, dass ich nicht jeden von Ihnen im Blick behalten kann. Seien Sie also so gut, und bleiben Sie so nah bei mir, dass Sie mich hören können.«
    Den Kopfhörer um den Hals, gehst du zum WC . Leute aus deiner Gruppe starren dir nach, als du durch die Tür mit dem WC -Schild verschwindest. Du wäschst dir die Hände, und als du zum Abtrocknen dein Taschentuch aus der Handtasche nehmen willst, fällt dein Blick auf den zerknitterten Brief deiner Schwester. Es ist der Brief, den du vor drei Tagen noch aus dem Briefkasten genommen hast, ehe du mit Yu-Bin zum Flughafen fahren wolltest. Den Griff des Rollkoffers in der Hand, hast du den Absender gelesen: deine Schwester. Es war das erste Mal, dass du einen handgeschriebenen Brief von deiner Schwester bekamst, keine E-Mail. Du hast überlegt, ob du ihn aufmachen solltest, ihn dann aber in die Handtasche gesteckt. Vielleicht wolltest du ihn ja deshalb nicht lesen, weil du Angst hattest, dann nicht mit Yu-Bin ins Flugzeug steigen zu können.
    Du gehst wieder hinaus und setzt dich zu deiner Gruppe. Aber statt den Kopfhörer aufzusetzen, nimmst du den Brief von deiner Schwester heraus und reißt nach kurzem Zögern den Umschlag auf.

    Liebe Schwester,
    als ich kurz nach unserer Rückkehr aus Amerika bei Mama war, hat sie mir ein Dattelpflaumenbäumchen geschenkt, das mir gerade bis an die Knie ging. Ich war zu ihr gefahren, um die Sachen zu holen, die ich dort gelassen hatte. Ich fand Mama in dem Abstellverschlag am Schuppen, wo mein Gaskocher, mein Kühlschrank, mein Tisch und die anderen Sachen standen. Sie lag reglos am Boden. Die Nachbarskatzen, die Mama immer gefüttert hat, saßen um sie herum. Als ich an ihrer Schulter rüttelte, schlug sie die Augen auf, sah mich an und lächelte. »Meine Kleine!« Sie sagte, es sei alles in Ordnung. Jetzt ist mir klar, dass sie ohnmächtig geworden war, aber damals hat sie mir immer wieder versichert, es sei alles bestens, sie sei nur in den Schuppen gegangen, um die Katzen zu füttern. Mama hatte alles aufgehoben, was ich bei ihr untergestellt hatte. Sogar die Gummihandschuhe, die ich ihr ausdrücklich zum Gebrauch überlassen hatte. Sie sagte, den Gaskocher hätte sie beinahe mal bei einem Ahnenritual benutzt. »Warum hast du’s nicht getan?«, habe ich gefragt. Sie hat gesagt: »Damit ich dir alles so zurückgeben kann, wie du es dagelassen hast.«
    Als ich alles auf den Transporter geladen hatte, kam Mama von hinterm Haus, wo sie die ganzen Töpfe mit den Pasten stehen hat, mit dem Dattelpflaumenbäumchen an. Sie wirkte irgendwie verlegen. Die Wurzeln waren samt Erde in Plastik eingepackt. Sie hatte das Bäumchen für den Garten von unserem neuen Haus gekauft. Es war so klein, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wie es je Früchte tragen sollte. Ich wollte es nicht mitnehmen. Wir hatten zwar ein Haus mit Garten gefunden, aber es war nur gemietet, und wer sollte sich um das Bäumchen kümmern? Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, sagte Mama: »Er wird bald tragen. Selbst siebzig Jahre gehen schnell vorbei.«
    Ich wollte das Ding

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