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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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noch an den Geruch nach Erde, wenn es im Sommer plötzlich geschüttet hat und der Hund und die Hühner und die Enten alle unter den Maru und in den Hühnerstall und an die Mauer geflüchtet sind. Ich erinnere mich an die Erdklümpchen, die sich von dem Sturzregen gebildet haben. In windigen Spätherbstnächten sind die Blätter vom Dattelpflaumenbaum raschelnd durch den Hof gewirbelt. Die ganze Nacht hat man das gehört. In Winternächten, wenn es schneite, gab es Schneeverwehungen bis auf den Maru.
    Jemand macht das Tor auf. Ah, die Tante!
    Du warst die Tante meiner Kinder und meine Schwägerin, aber ich konnte dich nie »Schwägerin« nennen, weil du mir eher wie eine Schwiegermutter vorkamst. Jetzt bist du wohl nach dem Haus schauen gekommen, weil Schnee liegt und es so windig ist. Ich dachte, da wäre niemand, der nach dem Haus schaut, weil ich dich ganz vergessen hatte. Aber warum humpelst du so? Du warst doch immer so hurtig. Na ja, du wirst wohl auch alt. Pass auf – es ist glatt.
    Â»Ist da jemand?«
    Deine Stimme ist noch so kräftig wie eh und je.
    Â»Keiner da, oder?«
    Du rufst, obwohl du weißt, dass hier keiner ist. Du setzt dich auf die Kante vom Maru, ohne auf Antwort zu warten. Warum bist du nicht dick genug angezogen? Du wirst dich erkälten. Du guckst auf den Schnee im Hof, als ob du in Gedanken woanders wärst. Woran denkst du?
    Â»Ich habe doch das Gefühl, dass hier jemand ist …«
    Bist du auch schon ein halber Geist, Tante?
    Â»Ich verstehe nicht, warum du in dieser Kälte draußen herumwanderst.«
    Meinst du mich?
    Â»Der Sommer ist vergangen und der Herbst, und jetzt haben wir Winter … Ich wusste nicht, dass du so ein herzloser Mensch bist. Was soll das Haus denn ohne dich machen? Es ist doch nur eine leere Hülle. Du bist in Sommerkleidern weggegangen und immer noch nicht zurückgekommen, obwohl jetzt Winter ist – bist du schon in der anderen Welt?«
    Noch nicht. Ich wandere noch herum.
    Â»Das Traurigste auf der Welt ist es, fern von zu Hause zu sterben … Bitte, sei gescheit und komm zurück.«
    Weinst du?
    Deine lang gezogenen Mandelaugen schauen zum grauen Himmel hinauf und werden feucht. Jetzt, wo du so bist, sind deine Augen gar nicht beängstigend. Ich hatte immer solche Angst vor deinen strengen Augen, dass ich dir nicht ins Gesicht geschaut habe. Aber ich glaube, es war mir lieber, als du noch so energisch warst. Es sieht dir gar nicht ähnlich, mit hängenden Schultern dazusitzen. Ich habe mein ganzes Leben lang nie ein nettes Wort von dir gehört, warum muss ich dich dann jetzt so niedergeschlagen sehen? Ich seh dich nicht gern schwach. Ich hatte ja nicht nur Angst vor dir. Wenn irgendwas Schwieriges war und ich nicht weiterwusste, habe ich gedacht, was würde die Tante tun? Und dann habe ich getan, was ich dachte, was du tun würdest. Du warst also auch mein Vorbild. Aber du weißt ja, ich bin auch nicht von Pappe. Alle Beziehungen auf der Welt funktionieren in zwei Richtungen, nicht nur in eine. Na, jedenfalls fällt dir jetzt die Aufgabe zu, dich um Hyong-Chols Vater zu kümmern, weil er ganz allein ist. Das tut mir leid, aber andererseits beruhigt es mich auch, dass du da bist. Im Leben wusste ich genau, dass du von ihm abhängig warst, weil du ganz allein warst, also war ich nicht gekränkt oder enttäuscht, habe mich nicht ausgeschlossen gefühlt. Für mich warst du einfach eine schwierige Familienälteste, wie eine Schwiegermutter eben. Aber, Tante … ich will nicht in das Grab, das schon seit ein paar Jahren auf eurer Familiengrabstätte für mich reserviert ist. Ich will da nicht hin. Als ich noch hier gewohnt habe, bin ich oft, wenn ich klar im Kopf war, zu meinem zukünftigen Grab gegangen, damit ich mich dort schon heimisch fühlen würde, wenn ich nach dem Tod hinkäme. Es war ein sonniger Platz, und die verwachsene, hohe Tanne hat mir gefallen, aber noch im Tod zu dieser Familie zu gehören – die Vorstellung war mir einfach zu viel. Um mich dran zu gewöhnen, habe ich gesungen und Unkraut gezupft und bin bis Sonnenuntergang dortgeblieben, aber es hat nichts genützt, ich habe mich dort nicht wohler gefühlt. Ich habe über fünfzig Jahre zu dieser Familie gehört, bitte, lasst mich jetzt gehen. Damals, als wir die Grabstellen verteilt haben und du gesagt hast, ich müsste einen Platz

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