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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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du dich melden konntest. Das war eigentlich immer Mamas Spezialität. Wenn sie im Blumengarten Unkraut jätete und das Telefon klingelte, sagte sie zu deinem Vater: »Geh dran, das ist Chi-Hon!« Als du sie mal gefragt hast, woher sie denn wisse, wer anrufe, sagte sie nur achselzuckend: »Ich weiß es eben.« Jetzt, wo Vater allein in dem leeren Haus wohnt, weiß er immer schon beim ersten Klingeln, dass du es bist. Du hast Vater erklärt, dass du vielleicht eine Weile nicht anrufen könntest, weil das von Rom aus wegen der Zeitverschiebung so kompliziert sei. Als ob er dir gar nicht zuhörte, sagte er plötzlich, er hätte Mama wegen ihrer Nebenhöhlen operieren lassen müssen.
    Â»Sie hatte es an den Nebenhöhlen?«, hast du zerstreut gefragt.
    Er erklärte dir, bei jedem Jahreszeitenwechsel habe Mama nachts vor Husten nicht schlafen können. »Das ist meine Schuld. Wegen mir hatte deine Mutter keine Zeit, auf ihre Gesundheit zu achten.« In einer anderen Situation hättest du wahrscheinlich gesagt: »Das ist niemandes Schuld, Vater.« Aber jetzt hörtest du dich sagen: »Stimmt, es ist deine Schuld.« Er atmete am anderen Ende scharf ein. Er wusste nicht, dass du vom Flughafen aus telefoniertest.
    Â»Chi-Hon«, sagte Vater schließlich.
    Â»Ja?«
    Â»Deine Mutter besucht mich nicht mal im Traum.«
    Du sagtest nichts.
    Vater schwieg ebenfalls ein Weilchen, fing dann an, von früher zu reden. Von dem Degenfisch, den ihnen Hyong-Chol einmal geschickt hatte. Deine Mutter habe vom Feld einen Rettich mit Blättern geholt, die Erde abgeschrubbt, den Rettich geschält, in dicke Scheiben geschnitten, unten in den Topf getan und darüber den Degenfisch gegart, mit so vielen Gewürzen, dass er sich ganz rot gefärbt habe. Dann habe Mama ihm ein großes Stück von dem Fisch auf seinen Reis gelegt. Vater fing an zu weinen, als er erzählte, wie sie Degenfisch zum Frühstück und zum Mittagessen gegessen und sich dann wohlgesättigt zu einem Mittagsschlaf hingelegt hatten. Damals, sagte er, habe er gar nicht erkannt, was das sei – nämlich Glück. »Es tut mir so leid, dass ich so zu deiner Mutter war … immer habe ich über irgendwelche Beschwerden geklagt.« Das stimmte. Vater war entweder nicht da oder krank gewesen. Jetzt schien er voller Reue.
    Â»Als es mit meinen Gesundheitsproblemen losging, muss es bei deiner Mutter auch angefangen haben.«
    Hatte Mama nicht sagen können, dass sie Schmerzen hatte, weil Vaters Krankheiten allen Raum eingenommen hatten? Sie, die sich um alle kümmerte, hatte es sich einfach nicht leisten können, leidend zu sein. Mit fünfzig hatte Vater angefangen, blutdrucksenkende Medikamente zu nehmen. Er hatte Gelenkschmerzen bekommen und grauen Star. Kurz vor Mamas Verschwinden war er in einem Jahr zweimal am Knie operiert worden. Hinzu kam eine Prostataoperation wegen Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Er hatte einen Schlaganfall gehabt und deshalb in einem Jahr dreimal im Krankenhaus gelegen, jeweils zwei bis vier Wochen. In diesen Zeiten hat Mama im Krankenhaus übernachtet. Tagsüber war eine Pflegekraft da, die die Familie bezahlte, aber nachts wollte er unbedingt Mama bei sich haben. Als einmal doch die Pflegekraft an ihrer Stelle im Krankenhaus schlief, ging Vater ins Bad, schloss sich ein und weigerte sich, wieder herauszukommen. Mama, die bei Hyong-Chol übernachtete, bekam einen Anruf von der Pflegekraft, die nicht wusste, was tun. Mama eilte mitten in der Nacht ins Krankenhaus und redete Vater durch die verriegelte Badtür gut zu.
    Â»Ich bin’s. Mach auf, ich bin’s!«
    Als er ihre Stimme hörte, öffnete Vater den Riegel. Er kauerte neben dem Klo. Mama half ihm wieder ins Bett. Er sah sie nur schweigend an und schlief dann schließlich ein. An den Vorfall schien er sich nicht erinnern zu können. Als du ihn am nächsten Tag fragtest, warum er das getan habe, sagte er: »So was hab ich gemacht?« Und damit du nicht weiter nachhaktest, schloss er schnell die Augen.
    Â»Mama braucht auch ihre Nachtruhe, Vater!«
    Er drehte sich weg. Du wusstest, dass er nicht wirklich schlief, sondern dir und Mama zuhörte. Mama meinte, er habe Angst gehabt. Er sei aufgewacht und habe sich in einer fremden Umgebung wiedergefunden, wo niemand von der Familie war, nur diese Frau. Da habe er sich verstecken wollen.
    Â»Was ist denn daran so

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