Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
Vom Netzwerk:
immer noch nicht mitnehmen, aber Mama erklärte: »Ich schenke ihn dir, damit du Dattelpflaumen pflückst und an mich denkst, wenn ich tot bin.«
    Â»Wenn ich tot bin …« Das hat Mama andauernd gesagt. Du weißt ja, das war immer ihre Waffe. Ihre einzige Waffe gegen Kinder, die nicht machten, was sie wollte. Ich weiß nicht mehr, wann es angefangen hatte, aber immer, wenn ihr etwas nicht passte, sagte sie: »Das kannst du tun, wenn ich tot bin.« Also packte ich das Bäumchen auf den Transporter und nahm es mit nach Seoul, obwohl ich nicht sicher war, dass es überleben würde. Ich grub es so tief ein, wie Mama am Stamm markiert hatte. Als Mama dann irgendwann nach Seoul kam, sagte sie, ich hätte es zu dicht an die Mauer gesetzt und müsse es noch mal verpflanzen. Sie hat mich immer wieder gefragt, ob ich es verpflanzt hätte. Ich sagte Ja, obwohl es nicht stimmte. Mama wollte, dass ich es an einer Stelle im Garten einpflanzte, die ich für später mal, wenn wir das Haus kaufen könnten, dafür vorgesehen hatte, einen richtig großen Baum zu pflanzen. Ich hatte nicht ernstlich vor, das mickrige Ding, das gerade mal drei, vier Äste hatte und mir immer noch kaum bis an die Taille ging, an die beste Stelle im Garten umzupflanzen, aber ich sagte »Ja, ja«. Bevor sie verschwunden ist, hat sie plötzlich jeden zweiten Tag angerufen und gefragt: »Hast du den Dattelpflaumenbaum verpflanzt?« Ich habe immer nur gesagt: »Ich mach’s bald.«
    Schwester, gestern habe ich mich schließlich mit dem Baby ins Taxi gesetzt, bin nach So-orung gefahren, habe Hühnermist gekauft, bin dann in unseren Garten gegangen und habe an der Stelle, die Mama gemeint hatte, ein Loch gegraben, um das Bäumchen zu versetzen. Ich hatte nie richtig ernst genommen, dass es zu nah an der Mauer stünde, aber als ich es ausgrub, war ich verblüfft. Die anfangs so mickrigen Wurzeln hatten sich ausgebreitet und ein richtiges Geflecht gebildet. Ich war beeindruckt von diesem Lebenswillen, der Entschlossenheit, in diesem kargen Boden irgendwie durchzukommen. Hat sie mir den Baum geschenkt, damit ich sehen kann, wie er immer mehr Äste treibt und der Stamm dicker wird? Wollte sie mir vor Augen führen, dass man hegen und pflegen muss, wenn man Früchte ernten will? Oder hatte sie schlicht und einfach nicht das Geld, mir einen größeren Baum zu kaufen? Jedenfalls hatte ich zum ersten Mal eine Beziehung zu diesem Dattelpflaumenbaum. Meine Zweifel, ob er je tragen würde, sind verflogen.
    Weißt du noch, wie du neulich mal zu mir gesagt hast: »Erzähl mir was über Mama, was nur du weißt?« Ich habe gesagt, ich wüsste nichts über Mama. Nur dass sie verschwunden ist. Das ist immer noch so. Ich weiß zum Beispiel nicht, woher sie diese Kraft nahm. Überleg doch mal, Mama hat mehr gearbeitet, als ein einzelner Mensch arbeiten kann. Wahrscheinlich hat sie sich so verausgabt, dass immer weniger von ihr übrig geblieben ist. Bis sie am Ende nicht mal mehr allein zu den Wohnungen ihrer Kinder finden konnte. Und ich, die ich nicht mal nach meiner verschwundenen Mutter suchen kann, weil ich meinen Kindern etwas zu essen geben, sie frisieren und für die Schule fertig machen muss – was ist aus mir geworden? Du hast mal gesagt, ich sei anders als die anderen jungen Mütter, ich sei ein bisschen wie sie. Aber, Schwester, ich glaube nicht, dass ich je so sein kann wie Mama. Seit sie verschwunden ist, denke ich viel darüber nach. War ich eine gute Tochter? Könnte ich meinen Kindern das geben, was sie mir gegeben hat?
    Eins weiß ich sicher: Ich kann es nicht so machen wie sie, selbst wenn ich wollte. Wenn ich meinen Kindern Essen mache, habe ich oft das Gefühl, dass sie wie eiserne Fußfesseln an meinen Beinen hängen. Ich liebe meine Kinder und bestaune sie – habe wirklich ich sie zur Welt gebracht? Aber ich kann ihnen nicht mein ganzes Leben opfern! Ich verhalte mich, als würde ich notfalls meine Augen für sie geben, aber bei Mama war das etwas anderes! Ich wünsche mir oft, das Baby würde schneller groß. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben wegen der Kinder zum Stillstand gekommen ist. Wenn der Kleine so weit ist, dass ich ihn in die Krippe oder zu einer Tagesmutter geben kann, will ich wieder arbeiten. Ich habe ja schließlich auch noch ein Leben. Wenn ich das denke, frage ich mich, wie Mama so leben

Weitere Kostenlose Bücher