Als Mutter verschwand
Mutter verschwunden ist, neigst du zu impulsivem Handeln. Du hast viel getrunken. Du bist von einem Moment auf den anderen in den Zug gestiegen und zum Haus deiner Eltern gefahren. Du hast an die Decke deines Studios gestarrt, weil du nicht schlafen konntest, bist dann plötzlich aufgestanden und durch die StraÃen von Seoul gelaufen, um Flugblätter aufzuhängen, egal, zu welcher Nachtzeit. Einmal bist du in ein Polizeirevier marschiert und hast die Beamten angeschrien, sie sollten gefälligst deine Mutter finden. Auf den Anruf der Polizei hin kam Hyong-Chol und musterte dich nur wortlos. »Finde sie doch!«, schriest du deinen Bruder an, der irgendwann die Abwesenheit eurer Mutter als ein unabänderliches Faktum akzeptiert zu haben schien und inzwischen sogar wieder golfen ging.
Dein Schrei war sowohl Protest als auch Ausdruck von Selbsthass, weil auch du Mama nicht gefunden hattest. Dein Bruder hörte sich deine Ausfälle gelassen an. »Wie kannst du so sein? Warum suchst du nicht nach Mama? Warum? Warum?«
Alles, was dein Bruder tun konnte, war, nachts mit dir durch die Stadt zu streifen. Du suchtest unterirdische Einkaufspassagen ab, den Nerzmantel, den du im Winter aus Mamas Kleiderschrank geholt und mitgenommen hattest, um die Schultern oder überm Arm, damit du Mama, wenn du sie fändest, warm einpacken könntest, weil sie ja zuletzt Sommersachen angehabt hatte. Dein Schatten mit dem Nerzmantel glitt über die Marmorfronten der Geschäfte, während du zwischen den schlafenden Obdachlosen umhergingst, die sich mit Zeitungen oder Kartons vor der Kälte schützten. Du hattest das Handy immer an, aber es meldete sich niemand mehr, der Mama gesehen haben wollte.
Einmal gingst du zur U -Bahn-Station Seoul-Hauptbahnhof, auf den Bahnsteig, wo Mama verschwunden war, und trafst Hyong-Chol, der einfach nur dort herumstand. Ihr habt euch hingesetzt und gewartet, bis die letzte U -Bahn durch war. Er sagte, am Anfang habe er hier immer das Gefühl gehabt, jeden Moment würde Mama ihm auf die Schulter tippen und »Hyong-Chol!« sagen. Aber jetzt glaube er nicht mehr daran. Er erklärte dir, dass er gar nichts mehr denke, dass sein Kopf leer sei. Dass er nur deshalb noch hierherkomme, weil er nach der Arbeit manchmal nicht nach Hause wolle.
Einmal, an einem Feiertag, wolltest du ihn zu Hause besuchen. Du sahst ihn mit seinem Golfsack aus dem Auto steigen. Du schriest: »Du Arschloch!«, und machtest ihm eine Riesenszene. Wenn selbst er einfach hinnehme, dass Mama weg sei, wer sie denn dann jemals finden solle? Du hast ihm den Golfsack aus der Hand gerissen und das Ding auf den Boden gefeuert. Allmählich gewöhnten sich alle dran, Leute zu sein, die ihre Mutter, Schwiegermutter oder Ehefrau verloren hatten. Das Leben ging weiter.
Ein andermal, frühmorgens, gingst du wieder auf den U -Bahnsteig, wo Mama verschwunden war, und wieder war da dein Bruder. Du gingst von hinten auf ihn zu, als er da im fahlen Morgenlicht stand, und umarmtest ihn. Er sagte, vielleicht dächtet ja nur ihr Kinder, dass Mamas Leben nichts als Leiden und Opfer gewesen sei, wegen eurer Schuldgefühle. Vielleicht reduziertet ihr es ja fälschlich auf eine traurige Existenz. Er erinnere sich, wie Mama schon beim kleinsten positiven Geschehnis gesagt habe: »Ich bin ja so dankbar! Dafür kann man wirklich dankbar sein!« Dein Bruder erklärte, Mamas Dankbarkeit für die ganz gewöhnlichen Dinge des Lebens sei aus tiefstem Herzen gekommen, und jemand mit einer solchen Grundhaltung könne doch nicht durch und durch unglücklich gewesen sein. Bevor er ging, gestand er dir noch, dass er Angst habe, Mama würde ihn gar nicht mehr erkennen, falls sie je wieder auftauchte. Du sagtest, er sei für Mama das Liebste auf der Welt, und sie würde ihn immer und unter allen Umständen erkennen. Als er damals eingezogen worden war, durften Verwandte an einem bestimmten Tag die Rekruten im Ausbildungslager besuchen. Eine Schüssel mit Reiskuchen auf dem Kopf, ging Mama mit dir hin. Hunderte von Soldaten, alle einheitlich gekleidet, demonstrierten dieselben Taekwondo-Techniken. Für dich sahen sie alle gleich aus, aber Mama zeigte mit dem Finger und sagte mit einem strahlenden Lächeln: »Da ist dein Bruder!«
Eine ganze Weile hattet ihr friedlich über Mama geredet, aber dann wurdest du doch wieder laut und warfst ihm vor, nichts mehr zu tun, um sie zu finden.
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