Als Mutter verschwand
»Warum sprichst du von Mama, als ob sie nicht mehr wiederkäme?«, schriest du ihn an. »Aber wie soll ich sie denn finden?«, schrie er zurück. In seiner Frustration riss er den obersten Knopf seines weiÃen Hemds ab und brach in Tränen aus. Seitdem nimmt er nicht mehr ab, wenn du ihn anrufst.
Erst als Mama verschwunden war, ist dir bewusst geworden, wie sehr du all ihre Geschichten in dir trägst. Ihr Alltag â eine Endlosschleife. Die kleinen Dinge, die sie dir erzählt hat und denen du nie groà Beachtung geschenkt hast, solange sie da war, überschwemmen dich wie eine Flutwelle. Dir wird klar, dass sich ihre Situation nie verändert hat, nicht als der Krieg vorbei war, nicht als ihr genug zu essen hattet. Wenn sich die Familie nach längerer Zeit wiedertraf und ihr alle mit Vater um den Tisch saÃt und über die Präsidentenwahl diskutiertet, war es Mama, die kochte, das Essen auftrug, abwusch und die feuchten Geschirrtücher zum Trocknen aufhängte. Mama war es auch, die das Tor, das Dach und den Maru reparierte. Ihr alle, auch du, fandet es selbstverständlich, dass sie diese endlose Arbeit machte, und kamt gar nicht auf die Idee, ihr zu helfen. Manchmal tatest du, wie dein Bruder gesagt hatte, ihr Leben als erbärmlich und unbedeutend ab, obwohl Mama, die nie eine Chance gehabt hatte, alles tat, um dir die besten Chancen zu verschaffen, obwohl sie dir tröstend den Rücken tätschelte, wenn du deprimiert warst.
Als an den Gingkos am Rathausplatz winzige neue Blätter sprossen, hocktest du dich unter einem der mächtigen Bäume hin. Der Frühling kam, obwohl Mama nicht da war. Der Boden taute auf, und die Pflanzen erwachten. Die Hoffnung, die dich bisher getragen hatte, zerschlug sich jäh. Auch ohne Mama würde bald Sommer sein, dann Herbst, dann Winter, und dein Leben würde weitergehen. Du hattest die Vision einer StraÃe durch eine trostlose Einöde. Und einer Frau in blauen Plastiksandalen, die sich diese StraÃe entlangschleppte.
Ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, bist du mit Yu-Bin nach Rom geflogen, als er zu dem Kongress hier musste. Er hatte dich gefragt, ob du mitkommen wollest, aber nicht damit gerechnet, dass du Ja sagen würdest. Er war verdutzt, buchte aber geduldig Flug und Unterkunft entsprechend um. Am Tag vor der Abreise rief er dich an und fragte: »Es bleibt doch dabei, oder?« Als du mit ihm ins Flugzeug nach Rom stiegst, hast du dich erstmals gefragt, ob es vielleicht Mamas heimlicher Traum war, einmal zu reisen. Sie hat dich immer ängstlich beschworen, nicht zu fliegen, aber wenn du es doch getan hast und von deiner Reise zurück warst, hat sie dich nach dem jeweiligen Land ausgefragt. »Was haben die Leute in China an?« »Wie tragen die Indio-Frauen ihre Kinder?« »Was gibt es in Japan Gutes zu essen?« Deine Antworten waren immer knapp. »Die Männer in China laufen im Sommer mit freiem Oberkörper herum.« »Die Indiofrauen, die ich in Peru gesehen habe, trugen ihre Kinder in einem Tuch auf der Hüfte.« »Das japanische Essen ist zu süÃ.« Wenn Mama immer weiter fragte, sagtest du schlieÃlich genervt: »Das erzähl ich dir später, Mama.« Aber dazu kam es nie, weil du immer anderes zu tun hattest. Du hast dich in deinem Flugzeugsitz zurückgelehnt und tief geseufzt. Mama war es, die dir riet, weit weg von eurem Dorf zu leben, die dich schon als junges Ding in die GroÃstadt schickte. Die Mama von damals ⦠dir wird schmerzlich bewusst, dass sie so alt war, wie du jetzt bist, als sie dich zu Hyong-Chol nach Seoul brachte und mit dem Nachtzug wieder zurückfuhr. Was für eine Frau! Diese Frau, die verheiratet wurde, noch ehe sie ihre Periode hatte, die gezwungen war, die Freuden und Träume ihrer Kindheit und Jugend aufzugeben, die fünf Kinder gebar und darüber selbst Stück für Stück verschwand. Die, wenn es um ihre Kinder ging, durch nichts zu erschüttern oder aus der Bahn zu werfen war. Und die dann, nach einem Leben voller Opfer, auf einem U -Bahnsteig verschwand. Du vergleichst dich mit ihr, aber Mama war eine Welt für sich. Sie an deiner Stelle würde nicht fliehen, so wie du es jetzt tust.
Ganz Rom ist ein einziges Museum. Was hast du nicht alles an Klagen über Rom gehört: dass jeden zweiten Tag die Verkehrsbetriebe streiken und sich nicht mal bei den Fahrgästen dafür entschuldigen,
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