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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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beängstigend?«, musste dich dein Vater knurren hören.
    Â»Hast du dich noch nie gefürchtet?«, fragte Mama. Sie warf einen Seitenblick auf Vater und sprach leiser weiter: »Dein Vater sagt, dass ich das auch manchmal mache. Er wacht mitten in der Nacht auf, sagt er, und ich bin nicht da. Wenn er mich dann suchen geht, kauere ich im Schuppen oder hinterm Brunnen, fuchtle mit den Händen und flehe, ›Nicht! Bitte nicht …!‹«
    Â»Du, Mama?«
    Â»Ich kann mich hinterher auch nicht dran erinnern. Dein Vater sagt, er bringt mich ins Bett und gibt mir Wasser zu trinken, und dann schlafe ich wieder ein. Wenn es mir so geht, ist es bei deinem Vater bestimmt auch Angst.«
    Â»Aber wovor denn?«
    Mama flüsterte: »Vor jedem neuen Tag. Für mich war immer das Schlimmste, wenn der Reistopf leer war. Wenn ich dachte, ihr Kinder müsstet hungern … dann hatte ich vor Angst einen ganz trockenen Mund. Es gab solche Tage.«
    Vater hatte nie jemandem aus der Familie von Mamas Nachtschreck-Attacken erzählt. Und auch wenn du ihn jetzt, wo Mama nicht mehr da ist, anrufst, kramt er gern irgendwelche alten Geschichten aus, um das Ende des Telefonats hinauszuzögern, aber er hat nie etwas davon gesagt, dass Mama sich mitten in der Nacht irgendwo versteckte.
    Du schaust auf die Uhr. Zehn Uhr. Ist Yu-Bin auf? Hat er gefrühstückt?
    Heute Morgen um sechs bist du in einem alten Hotel gegenüber der Stazione Termini aufgewacht. Seit Mamas Verschwinden ist da in dir diese bleierne Verzweiflung, die dein Herz und deinen Körper so schwer macht. Du hast dich aufgesetzt, und Yu-Bin, der mit dem Rücken zu dir geschlafen hatte, drehte sich um und wollte dich an sich ziehen. Du hast seine Arme sanft weggeschoben, worauf er sie über der Stirn verschränkte.
    Â»Schlaf doch noch ein bisschen«, sagte er.
    Â»Ich kann nicht.«
    Er drehte sich wieder weg. Du hast auf seinen schmollenden Rücken geschaut, dann die Hand ausgestreckt und ihn gestreichelt. Seit Mama verschwunden ist, hast du dich Yu-Bin nicht mehr wirklich geöffnet.
    Wenn ihr zusammen wart, die übrigen Familienmitglieder und du, erschöpft von der vergeblichen Suche nach Mama, machte sich oft Schweigen breit. Dann brach sich die allgemeine Frustration Bahn. Jemand verließ türenknallend die Wohnung, jemand goss sich Soju in ein Bierglas und kippte ihn hinunter. Ihr versuchtet, die Erinnerung an Mama wegzuschieben, dachtet aber alle nur eins: Wenn sie doch hier wäre. Wenn ihre Stimme doch nur einmal durchs Telefon sagen würde: »Ich bin’s.« Mama meldete sich immer mit »Ich bin’s!«. Seit ihrem Verschwinden konntet ihr keine zehn Minuten mehr richtig über irgendetwas reden. Die Frage »Wo mag Mama jetzt sein?« drängte sich in alle Gedanken und lenkte euch ab.
    Â»Ich möchte den Tag heute allein verbringen«, sagtest du.
    Â»Was willst du denn allein machen?«, fragte er, immer noch mit dem Rücken zu dir.
    Â»Ich will in den Petersdom. Als ich gestern in der Lobby auf dich gewartet habe, habe ich mich für eine ganztägige Vatikan-Führung angemeldet. Ich muss mich fertig machen. Aufbruch ist um zwanzig nach sieben unten in der Halle. Wenn man nach neun hinkommt, ist die Schlange angeblich so lang, dass man zwei Stunden warten muss, um reinzukommen.«
    Â»Wir hätten doch morgen zusammen hingehen können.«
    Â»Wir sind in Rom, da gibt es noch reichlich andere Sachen, die wir zusammen machen können.«
    Du hast dir das Gesicht gewaschen, leise, um ihn nicht zu stören. Du wolltest dir eigentlich die Haare waschen, dachtest aber, dass die Dusche zu laut wäre. Also hast du dir einfach nur vor dem Spiegel einen Pferdeschwanz gemacht. Als du angezogen aus dem Bad kamst, hast du, als ob es dir gerade einfiele, gesagt: »Danke, dass du mich mitgenommen hast.«
    Er zog sich das Decklaken übers Gesicht. Du wusstest, er gab sich alle Mühe, geduldig zu sein. Er stellte dich Leuten, die ihr traft, als seine Frau vor. Wahrscheinlich wärst du das ja inzwischen auch, wenn Mama wieder aufgetaucht wäre. Nach seiner Veranstaltung heute Vormittag hättet ihr euch eigentlich mit anderen Ehepaaren zum Mittagessen treffen sollen. Wenn er allein käme, würden die anderen fragen, wo denn seine Frau sei. Du hast noch einmal seine ganz unter dem Decklaken versteckte Gestalt betrachtet und bist dann gegangen.
    Seit deine

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