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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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dass einem die Armbanduhr vom Handgelenk geklaut wird, dass alles voller Müll und Graffiti ist – dir war das egal. Du hast es einfach hingenommen, als dich ein Taxifahrer übers Ohr gehauen und jemand sich deine Sonnenbrille vom Cafétisch geschnappt hat. Die letzten drei Tage hast du, während Yu-Bin auf seinem Kongress war, etliche berühmte Ruinen allein besichtigt: das Forum Romanum, das Kolosseum, die Caracalla-Thermen, die Katakomben. Alles an Rom ist Zivilisationsgeschichte. Doch obwohl sich dir auf Schritt und Tritt Spuren der Vergangenheit offenbarten, hat nichts davon dein Inneres berührt.
    Jetzt betrachtest du die Heiligenstatuen rings um den runden Platz, aber nichts zieht deine Aufmerksamkeit auf sich. Der Fremdenführer erklärt, dass der Vatikan ein Staat im säkularen Sinn und gleichzeitig der Staat Gottes sei. Mit seinen gerade mal vierundvierzig Hektar präge er eigene Euromünzen und habe eigene Briefmarken. Du hast gar nicht richtig zugehört, sondern unablässig die Menge um dich herum abgesucht. Man kann ja nie wissen . Mama kann zwar unmöglich unter diesen westlichen Touristen sein, aber dein Blick hat sich dieses permanente Umherhuschen angewöhnt. Er begegnet dem Blick des Fremdenführers, der gerade erzählt, dass er vor sieben Jahren hierhergekommen ist, um Chormusik zu studieren. Ein wenig beschämt rückst du deine Kopfhörer zurecht. »Der Vatikan ist das kleinste Land der Welt …« Du beißt dir in die Innenseite der Unterlippe, als dir plötzlich dieser Satz in die Ohren schallt. Mamas Worte schießen dir durch den Kopf. Wann war das? Mama hat dich gefragt, welches das kleinste Land der Welt sei. Sie hat dich gebeten, ihr einen Rosenholz-Rosenkranz zu kaufen, wenn du je dorthin kämst. Das kleinste Land der Welt. Plötzlich bist du ganz Ohr. Das hier? Der Vatikan?
    Den Kopfhörer immer noch auf, entfernst du dich von deiner Gruppe, die im Schatten am Fuß der Marmorstufen sitzt, und betrittst das Museum allein. Ein Rosenkranz aus Rosenholz. Du gehst achtlos an den grandiosen Wandgemälden und einer schier endlosen Reihe von Statuen vorbei. Irgendwo muss doch ein Museumsshop sein, vielleicht gibt es da ja so was. So schnell wie möglich fädelst du dich durchs Gedränge, doch am Eingang der Sixtinischen Kapelle bleibst du stehen. Dort oben hat Michelangelo vier Jahre lang auf dem Rücken liegend gemalt? Die schiere Größe des Deckengemäldes überwältigt dich; so gigantisch hat es auf den Abbildungen in den Büchern nicht ausgesehen. Es wäre in der Tat ein Wunder gewesen, wenn er nach dieser Arbeit keinen Schiefhals gehabt hätte! Du spürst das Leiden und die Inbrunst des Künstlers wie Regen im Gesicht, als du zur Erschaffung Adams hinaufblickst. Dein Instinkt war richtig: Beim Verlassen der Kapelle siehst du einen Museumsshop, wo es Souvenirs und Bücher gibt. Hinterm Ladentisch stehen weißgewandete Nonnen. Eine von ihnen sieht dich an.
    Â»Sie sind aus Korea?«, fragt sie dich auf Koreanisch.
    Â»Ja.«
    Â»Ich auch! Sie sind die erste Landsmännin, die ich treffe, seit ich hierhergeschickt wurde. Ich bin vor vier Tagen angekommen.« Die Nonne lächelt.
    Â»Haben Sie Rosenholz-Rosenkränze?«
    Â»Rosenholz?«
    Â»Ja, aus echten Rosenholzperlen.«
    Â»Ah.« Die Nonne führt dich ans Ende der Ladenvitrine. »Meinen Sie so was?«
    Du öffnest das Kästchen, das sie dir reicht. Intensiver Rosenduft steigt dir in die Nase. Wusste deine Mutter von diesem Duft?
    Â»Er ist heute Morgen von einem Priester gesegnet worden.«
    Ist das ein Rosenkranz, wie ihn Mama wollte?
    Â»Bekommt man solche Rosenkränze nur hier?«
    Â»Nein, die gibt es überall. Aber einer aus dem Vatikan … das hat schon besondere Bedeutung.«
    Du schaust auf das Preisschildchen: fünfzehn Euro. Deine Hand zittert, als du der Nonne das Geld gibst. Sie fragt, ob es ein Geschenk sei. Geschenk? Wirst du noch Gelegenheit haben, ihn Mama zu schenken? Kann das noch sein? Als du nickst, zieht die Nonne unterm Ladentisch einen weißen Umschlag mit einer Abbildung der Pietà hervor, steckt das Kästchen hinein und verschließt den Umschlag mit einem Aufkleber.
    Den Rosenholz-Rosenkranz in der Hand, gehst du zum Petersdom. Vom Eingang aus schaust du hinein. Durch die mächtige Kuppel über dem bronzenen Ziborium strömt Licht herab. Zwischen den

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