Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
Kalender, auf ihrem Handy, im Fernseher, und immer wieder wispert sie: »Sie müssen doch hier irgendwo sein.« Warum kann sie nicht einfach der Nadel vertrauen und der Dinge harren, die da des Weges kommen?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie die Kompassnadel erst selbst polen und dann in das Gehäuse einsetzen musste. Sie hatte nicht immer so viel Glück. Sie könnte stolz sein. Vielleicht kann sie ihr Glück nicht so richtig fassen und befürchtet, dass sie, einmal den Kompass zugeklappt, vom Weg abkommen könnte. Diese Befürchtung speist sich wahrscheinlich aus der Vergangenheit.
Es ging schon mit der Schule los. Sie war sowohl durchschnittlich groß als auch durchschnittlich gut. Und sie fand sich auch durchschnittlich hübsch. Leider hatte sie nicht so viel Selbstvertrauen, dass sie ihre Braunäugig- und Blondhaarigkeit zu schätzen wusste. Sie war schon früh auf sich selbst gestellt und musste nach Schulschluss öfter vom Bürgersteig aus das Bürofenster ihrer Mama anschreien: »Mutti Maier! Mutti Maier!« Mutti Maier kam ans Fenster und winkte Anja zu: Komm gut zu Hause an! So wuchs sie zwar geliebt, aber auch ein bisschen alleine in einem gemütlichen und ruhigen Teil Ostberlins auf. Ihre Geschwister waren schon früh aus dem Haus, und Anja vertrieb sich die Zeit mit weißen Mäusen, die sie heimlich in ihrer Schreibtischschublade hielt, dem Verzieren und Naschen von Butterstücken und später dann mit guter Musik und schwarzer Kleidung. Sie wollte nämlich irgendwann nicht mehr durchschnittlich sein, sondern über sich hinauswachsen.
Genau hier muss ihre Suche nach ebenjenen Wurzeln des menschlichen Seins begonnen haben. Sobald sie alt genug war, beschloss sie, in die alte Ostberliner Innenstadt zu ziehen, um Kleider schwarz zu färben, reichlich zu feiern, eine Lehre zur Schriftsetzerin zu machen, zu fotografieren, Identitäten zu erforschen und die Grenzen der Freiheit auszutesten.
Und dann kam ein Mann. Und mit dem Mann kam ich. Als sich herausstellte, dass das Leben ohne ihn erfüllender sein würde, haderte sie nicht lang und zog mit mir aus. Diesmal, als hätte sie es geahnt, in ein Haus direkt an der Berliner Mauer. Im November 1989 trat sie von dort aus zusammen mit mir in ein neues Zeitalter ein. Es schien, als wäre der Fall der Berliner Mauer zwar für Deutschland im Allgemeinen, aber vor allem für Anja im Speziellen gemacht worden. Denn gerade als sie merkte, dass der Rest der Welt wahrscheinlich noch mehr Antworten auf ihre Fragen haben könnte, öffnete sich diese Grenze, und Anja ging mal schauen, was es da auf der anderen Seite so gab.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie mit dem Schauen bis heute noch nicht fertig ist. Einer ihrer Lieblingssprüche lautet: »Danke, Helmut!« Dieser Tribut an den dicken Kanzler außer Dienst kommt immer dann, wenn sie etwas sieht, was es so nur im Kapitalismus geben kann. Kinderlöffel, die die Farbe wechseln können, nachts leuchtende Plastesterne, bei Kälte reagierende Strohhalme und so weiter. Außerdem alles Funktionale wie Nanotechnik, soziale Netzwerke oder leise schließende Toilettendeckel. Sie ist fasziniert davon, wenn Energie in überflüssigen Luxus gesteckt wird, und auch durchaus bereit, über Farben, Materialien und Preise nachzudenken und zu reden. Sie liebt die Auseinandersetzung mit dem Überflüssigen, weil es bedeutet, dass es existiert und dass sie sich die Zeit dafür nehmen kann. Sie ist eine glühende Verehrerin des schönen Lebens.
Mit dem erheblich vergrößerten Einzugsbereich nach der Wende fand sie auch einen neuen Mann, den besten. Dieser brachte drei Neuerungen mit: gute Musik, gutes Essen und lange Haare. Mit Stefan ging sie es erst mal ganz ruhig an und machte noch ein Kind mit ihm, meine Schwester Kira. Als das geglückt war, zogen wir alle zusammen in den Berliner Speckgürtel, befassten uns mit jenem schönen Leben und waren eine echte Familie.
Anja ist eine liebevolle Mutter, und sie ist es gern. Sie war viel für uns da und hat uns immer das Gute nahegelegt. Sie hat uns gezeigt, dass Freiheit zu leben und zu lieben eine Tugend ist und dass, wer Gutes tut, auch Gutes erfährt. Sie hat uns auch gezeigt, dass man fast alles irgendwann lernen kann, man muss nur »üben, üben, üben«. Oh Gott, wie ich diesen Spruch gehasst habe! Als ob sie immer geübt hätte. Nachdem sie früher, ähnlich wie ich zwanzig Jahre später, nicht viel mehr als Puddingsuppe und Eierkuchen in der Küche zustande brachte,
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