Als Oma noch mit Kohlen heizte
Tag noch viermal übers Eis. Einmal kniete sie sich nieder und legte für eine Sekunde ihr Ohr auf eine Eisscholle. Es war, als ob sie unten, ganz unten das Wasser rauschen hörte.
Der Frost hielt sich noch eine ganze Woche lang. Jeden Tag kamen Frauen und Männer und Kinder und benutzten die Brücke. Ohne zu zaudern, zahlten sie das Brückengeld. Wenn es nach dem Willen der Knechte gegangen wäre, dann hätte es ruhig noch einen Monat oder länger so weitergehen sollen. Aber das Wetter achtet nicht auf das, was die Menschen wollen.
Der Wind drehte sich. Die klare, kalte Winterluft wich einem heftigen, wärmeren Sturm, der von Holland her über das Land blies. Wolken zogen auf. Die dünne Schneeschicht schmolz und es tropfte und träufelte von allen Dächern. Das Eis nahm eine schmutzig graue Färbung an.
Mitten in der Nacht schreckten die Leute aus dem Schlaf auf. Zischen, Quirlen, Donnern, Krachen tönte vom Strom herüber.
„Schlaft, Kinder, schlaft“, sagte Vater Meurer.
„Das Wasser kommt vom oberen Rhein und spült das Eis auf.“
„Und wo bleibt das alles?“, fragte Gertrud schlaftrunken.
„Ab nach Holland, weit ins Meer“, antwortete Tilla.
„Stimmt das, Papa?“, rief Gertrud.
„Wird wohl so sein“, sagte der Vater.
„Meine schöne Brücke“, murmelte Tilla. Dann schlief sie wieder ein.
Was übrig bleibt
Am nächsten Tag regnete es Bindfäden. Trotzdem wagte sich Tilla kurz auf den Deich. Der Strom führte hellbraunes Wasser. Hohe Wellen mit weißen Schaumkronen schlugen gegen das Ufer. Von der ganzen Eisherrlichkeit war nichts mehr übrig geblieben. Oder doch?
Tilla sah durch die Regenschleier hindurch einen riesengroßen Eisblock dicht unterhalb des Deiches liegen. Er war fast so groß wie das Haus von Holzschuhmacher Peters. Die gewaltige Flutwelle hatte ihn weit auf das Ufer gespült. Dann hatte das Wasser sich verlaufen und nicht mehr genügend Kraft besessen, den Eisbrocken wegzuschwemmen.
In der Schule wollte zunächst niemand glauben, dass das Eis auf der Wiese lag. Als jedoch der Regen nachließ und die Frühlingssonne sich hervorwagte, da liefen die Kinder los und bestaunten den Eisblock.
Der funkelte in der Sonne gelb und grün und rot und blau wie ein kostbarer Edelstein.
Den Kindern folgten die Großen und wollten das Eiswunder sehen. Sosehr die Sonne auch an Kraft gewann, der Eisberg schmolz nur ganz, ganz allmählich.
Erst im hohen Sommer, als die großen Schulferien schon vor der Tür standen, war das Eis ganz weggeschmolzen.
In der sattgrünen Uferwiese aber, dort, wo der Block gelegen hatte, blieb ein rabenschwarzer Fleck zurück. Kein Kraut wuchs in jenem Jahre mehr an dieser Stelle. Der Holzschuhmacher Peters sagte, das sei ein Hexentanzplatz. Aber alle haben es nicht geglaubt. Beim Teilen des Geldes im „Goldenen Schwan“ hat die Tilla, wie die Knechte auch, vierundzwanzig Silbertaler, sieben Groschen und vier Pfennige bekommen. Die Meurers konnten ihre Schulden bezahlen. Bei Holzschuhmacher Theo Peters wurde für Tilla ein neues Paar Holzschuhe bestellt.
„Endlich können wir die Strohsäcke in den Kinderbetten wegwerfen“, sagte Lisa Meurer, „endlich bekommen auch die Kinder eine Seegrasmatratze.“
Und doch hat es beim Geldverteilen Streit gegeben.
Der Bauer Drevenaar forderte seinen Anteil, weil er das Gerät ausgeliehen hatte. Da hat der Hein vom Leyschen Gut ihm einen einzigen Pfennig auf die Tischplatte gelegt.
„So war’s ja ausgemacht“, hat er gesagt, „einen Pfennig wolltest du haben, Bauer.“
„Von jedem Groschen, den ihr eingenommen habt, gehört mir ein Pfennig!“, schrie der Bauer empört.
Da hat jedoch selbst Lehrer Pannbeckers zugeben müssen, dass das nicht verabredet war. Nur ein Pfennig soll mir gehören, das habe der Bauer gesagt. Den Pfennig hat der Bauer nicht genommen und ist zornig aus dem „Goldenen Schwan“ hinausgerannt.
Mit dem Lehrer hat er ein ganzes Jahr lang kein Wort gewechselt. Aber Herr Pannbeckers hat’s nicht schwer genommen. Den Kindern in der Schule hat er jedoch eingeschärft, dass jeder, der einen Vertrag abschließt, alles genau bedenken muss.
Eine Tilla-Meurer-Brücke über den Rhein wird es wohl nie mehr geben. Die Tilla ist ja später die Mutter von meiner Mutter geworden. Mir, dem kleinen Enkel, hat sie diese Geschichte oft erzählt. Tilla Lohgerber, geborene Meurer, meine Oma also, ist schon vor Jahren gestorben. Ihre Geschichten aber sollen weiterleben.
Ich weiß, dass der Rhein hier
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