Als Oma noch mit Kohlen heizte
in dem Jahr der großen Brücke in der siebenten Schulklasse. Der Lehrer Pannbeckers hatte schon zu Beginn des Schuljahres gesagt: „Tilla, was du bei mir lernen konntest, das hast du gelernt“, und er setzte das Mädchen als Hilfslehrerin ein.
Sie musste mit den drei Kindern der dritten Klasse das kleine Einmaleins üben und dem halben Dutzend Schüler der Klasse vier das Gedicht „Gefroren hat es heuer“ abhören.
Tilla machte ihre Sache geschickt. Lehrer Pannbeckers war mit ihr zufrieden. Obwohl er alle dreiundsechzig Kinder des Dorfes vom ersten bis zum achten Schuljahr zusammen in einem einzigen Klassenraum unterrichtete, fand er doch gelegentlich Zeit, während der Schulstunden einen Blick in die Zeitung zu werfen.
Auf Tilla Meurer und seinen anderen Hilfslehrer konnte sich Lehrer Pannbeckers verlassen. Der zweite Hilfslehrer hieß bei den Schülern „der eisenharte Friederich“. Er war sehr gefürchtet. Der Lehrer hatte ihn nämlich eigenhändig aus der Nusshecke von Bauer Drevenaar herausgeschnitten. Der eisenharte Friederich wurde von Lehrer Pannbeckers noch häufiger zur Hilfe geholt als Tilla Meurer.
Der Unterschied zwischen den beiden Hilfskräften war: Tilla wandte sich an den Verstand der Kinder, der eisenharte Friederich aber sprach bei Mädchen die Handflächen an und bei den Jungen den Hosenboden. Bei Tillas Lehrkunst ging den Kindern ein Licht auf, beim Einsatz des eisenharten Friederich brannten die Handflächen und das Hinterteil wie Feuer. Wenn Lehrer Pannbeckers auf den eisenharten Friederich zurückgriff, dann war sein Kopf rot vor Zorn. Wenn Tilla ihm half, dann lächelte er zufrieden.
Auf Tilla hatte der Lehrer sogar ein Gedicht gemacht. Weil die Kinder fast alle Gedichte auswendig lernen mussten, die der Lehrer schrieb, deshalb war das Gedicht für Tilla im ganzen Dorf bekannt. Die erste Strophe hieß:
„Tilla ist ein Sonntagskind.
Unter ihrem blonden Zopf
in dem klugen, hellen Kopf
wohl tausend und mehr Ideen sind.“
Wie Recht Lehrer Pannbeckers mit den tausend Ideen hatte, das konnte in jenem Jahr allerdings noch niemand wissen.
Es war ein gutes Jahr gewesen. Das Heu war trocken in die Scheunen gekommen und die Getreidefelder hatten reiche Frucht getragen. Die Kinder fanden Anfang November so dicke Runkelrüben wie selten zuvor. Am Martinsabend leuchteten die Kerzen in den ausgehöhlten Rüben und beim Fackelzug schwebten die Fackeln wie große Köpfe durch die Dunkelheit. Die Nussbäume hatten tausend und abertausend Nüsse ins Gras geworfen. „Viele Nüsse, harter Winter“, sagte Tillas Mutter voraus und strickte ein weiteres Paar schafswollene Socken für ihren Mann.
Zunächst jedoch ließ der Winter auf sich warten. Einige wenige Nachtfröste im Dezember und zu Weihnachten Schneematsch auf den Straßen, das war alles, was er bis zum Jahresende aufzubieten hatte. Schon glaubte Tillas Mutter, die Nussbäume hätten sich getäuscht, da fiel Mitte Februar, als die Menschen im Dorf schon auf das Frühjahr warteten, ein scharfer Frost über das Land am Niederrhein. Eine dünne Schneeschicht knirschte unter den Füßen.
Der eisige Ostwind fegte den Himmel blank. Innerhalb weniger Stunden krauste sich eine Eishaut auf Tümpeln und Teichen.
Ob der Rhein in diesem Winter endlich mal zufriert?, dachte Tilla. Seit drei Jahren wartete sie darauf. Ihre Mutter hatte erzählt, dass Tilla zwei Jahre alt gewesen sei, als der Rhein sogar drei Wochen lang unter einem festen Eispanzer gelegen habe. Der Schmied Peerenbosch von der anderen Rheinseite habe es damals als Erster gewagt, über die Schollen von einem Ufer zum anderen zu klettern, und er sei heil herübergekommen.
Tilla stieg zum Rheindamm hinauf. Oben stand bereits der Knecht Christian van Bemmel. Er schaute auf das gewaltige bleigraue Wasser, das sich in dem breiten Flussbett auf Holland zuwälzte.
„Wohin fließt das viele Wasser, Tilla?“, fragte er.
„Nach Holland, Christian, nach Holland ins Meer.“
„Muss wohl groß und tief sein, das Meer“, sagte Christian.
„Muss es wohl“, stimmte Tilla zu. „Noch kein Eis zu sehen, Christian?“
„Noch kein Stückchen Eis, Tilla.“
„Wann, Christian, wann kommt das Eis?“
„Weiß ich auch nicht, Tilla. Vielleicht morgen?“
Sie gingen nebeneinander ins Dorf zurück, das kleine schmale Mädchen und Christian, der Knecht von Drevenaars Bauernhof.
Tilla mochte den Christian gut leiden. Im Winter, wenn die Arbeit für die Knechte nicht so hart war wie zu den
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