Als Oma noch mit Kohlen heizte
Andersland in die Schulstube zurück.
„Dass du mir eine große Hilfe bist, Tilla, das wusste ich bereits“, sagte der Lehrer. „Aber dass du auch herrliche Geschichten erfinden kannst, das ist mir neu. Du bist wirklich eine Erfinderin.“
Tilla bekam einen roten Kopf.
Später, als die Schule aus war, blieb sie in der Klasse zurück, bis alle Kinder den Raum verlassen hatten. Dann trat sie zu dem Lehrer ans Pult und sagte verlegen:
„Herr Lehrer, ich werde die Birne und den Apfel, die Nüsse und das Bonbon, ich werde alles zurückgeben, was die anderen mir gegeben haben.“
Der Lehrer nahm seine Brille ab, schaute Tilla lange an und sagte dann:
„Das ist nicht nötig und auch nicht richtig.“
Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Sieh mich an. Wie viele Gedichte habe ich in meinem Leben schon gemacht, meist, weil die Kinder mich darum baten. Der Fritz wollte ein Gedicht haben, das er bei der Goldhochzeit seiner Großeltern aufsagen wollte. Grete Rütters‘ Vater wurde fünfzig Jahre alt. Ich habe ihr ein Gedicht aufgesetzt. Zur Geburt, zur Verlobung, zur Hochzeit, zum Jubiläum, für den Schützenkönig, zur Einweihung des Denkmals, immer und immer sagen sie hier im Dorf: ‚Geh zum Lehrer, der macht dir ein Gedicht.‘ Niemals, Tilla, niemals hat mir auch nur einer etwas dafür gegeben. Keine Wurst, wenn geschlachtet wurde, keinen Korb Äpfel, selbst wenn die Bäume sich bogen, nichts. Nichts. Sie haben nie daran gedacht, dass Wörter, dass Gedichte, dass Geschichten etwas Schönes sind, schön wie ein neuer Stuhl, den der Tischler gemacht hat, schön wie eine Figur, die der Bilderschnitzer aus dem Holz holt. Heute aber haben die Kinder es gespürt, dass jede gute Geschichte ihren Lohn wert ist. Und du, Tilla, du hast dir den Lohn für deine Geschichten redlich verdient.“
„Danke, Herr Lehrer“, sagte Tilla. Einen Augenblick zögerte sie, aber dann griff sie in ihre Tasche, holte die braune Birne hervor, legte sie dem Lehrer aufs Pult, flüsterte: „Für das Tilla-Gedicht“, und rannte aus dem Klassenzimmer hinaus.
„Du solltest dich an der Eisbrücke sehen lassen“, rief der Lehrer ihr nach.
Aber das hätte Tilla keiner zu sagen brauchen.
Pfeiler und Mauern
Kaum hatte sie nach dem Essen das Geschirr gespült, da rannte sie los. Mehrmals musste sie Atempausen einlegen. Sie spürte deutlich, dass sie krank gewesen war.
Oben auf der Deichkrone blieb sie stehen, starr vor Verblüffung. Ihr wurde schwindlig. Spielte ihr die Fantasie einen Streich? Sie rieb sich die Augen, aber das Bild am Fluss änderte sich nicht. Gleich am Brückenaufgang waren aus Eisblöcken Pfeiler gebaut worden, rechts und links je einer. Sie ragten übermannshoch in den Himmel. Mit schwarzer Farbe stand in großen Buchstaben auf dem linken Pfeiler geschrieben:
IDEEN SIND WICHTIG
Und auf dem rechten Pfeiler stand:
TILLA-MEURER-BRÜCKE
Tilla lief den Damm hinab wie auf Wolken, über die Flussaue hin bis zur Brücke. Da warteten Christian und Hein und hatten ihre Geldtaschen um den Hals gehängt.
„Möchten Sie rüber auf die andere Seite?“, fragte Christian scheinheilig. „Kostet für Sie, Fräulein, heute nur einen Groschen.“
Aber dann konnte er das Lachen nicht mehr zurückhalten, fasste Tilla bei den Schultern und fragte: „Na, bist du mit uns zufrieden?“
„Ja, das bin ich“, sagte Tilla. „Aber jetzt möchte ich endlich zu Fuß über den Rhein gehen.“
„Immer diese Ausnahmen“, murrte Hein. Ihm schien das Ganze nicht besonders zu gefallen.
„Ich muss auch nach drüben“, sagte Christian. „Ich will den Peter an der Kasse ablösen.“
Er fasste Tilla bei der Hand. Es war ein seltsames Gefühl für das Mädchen, über das Eis zu laufen.
Sie dachte daran, dass unter ihren Holzschuhen das Wasser fünf Meter tief oder tiefer war. Rechts und links des Weges ragten an manchen Stellen Eiswände steil empor.
„Doch wie bei Moses“, sagte sie.
„Spinnst du schon wieder?“, fragte Christian.
„Nein, nein. Es steht in der Bibel von Lehrer Pannbeckers: ‚Links und rechts stand das Wasser wie eine Mauer, als Moses das Volk Israel durch das Rote Meer führte.‘“
„Du mit deinen Büchern“, spottete Christian. „Erstens ist im Roten Meer Salzwasser, zweitens gibt es dort, wo das Rote Meer ist, überhaupt niemals Frost.“
„Woher weißt du das, Christian?“
„Ich habe mir von Lehrer Pannbeckers das Buch von der Welt ausgeliehen. Da steht es so drin.“
Tilla lief an diesem
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