Als ploetzlich alles anders war
entwaffnet hatte und nun so verwundbar aussehen ließ, dass Teri auch jetzt wieder hätte heulen mögen. Sie hätte Louisa einfach in den Arm nehmen sollen, aber sie traute sich nicht. Erst da fiel ihr auf, wie selten sie Louisa seit dem Unfall wirklich berührt hatte. Über eine hilfreiche Geste waren die Berührungen nie hinausgegangen. Eine gewisse Scheu hielt Teri davon ab, als wäre ihre Schwester durch den Unfall so verwundbar geworden, dass sie Louisa nicht einmal anzufassen wagte– aus Angst, sie könnte sie ganz zerbrechen.
» Du hast uns doch nicht gestört, wie kommst du denn bloß auf solchen Unsinn. Jetzt stell doch endlich mal die verdammte Musik ab, Jette!«
Teresa warf ihrer Freundin einen vernichtenden Blick zu. Auch Jette war ganz außer Atem, ihr Gesicht war gerötet und verschwitzt. Nun trat ein trauriger, enttäuschter Ausdruck in ihre Augen, die bis eben noch so gestrahlt hatten.
» Meinetwegen könnt ihr ruhig weitertanzen«, sagte Louisa, als Jette ins Wohnzimmer hinübergegangen war, wo sie die Musik abstellte, die in der Stille noch ein bisschen nachschwang.
» Wollen wir aber gar nicht«, behauptete Teri. » War bloß so eine dumme Idee von Jette. Ich hatte überhaupt keine Lust dazu…«
Teri verstummte. Was erzählte sie denn da? Louisa hatte doch Augen im Kopf und hatte gesehen, wie Teri getanzt hatte. So hingegeben an die Musik und den Augenblick, dass es völlig hirnrissig war, jetzt das Gegenteil zu behaupten.
» Na ja, einen Moment lang war es ganz schön… ich meine…«, stammelte Teri. Wenigstens sollte Louisa nicht denken, Teri nähme sie nicht ernst genug, um ihr die Wahrheit zu sagen. In diesem Fall eine kleine, viel unproblematischere Wahrheit als die, um die es eigentlich ging.
» Du musst nicht meinetwegen immer auf alles verzichten, Teri«, sagte Louisa leise, stieß sich von der Tür ab und humpelte in ihr Zimmer.
Ans Essen dachte nun keine von ihnen mehr. Teri jedenfalls war der Appetit vergangen.
» Das war so eine saublöde Idee, Jette«, fauchte Teresa sie an, als Jette mit ihrem Rucksack wieder in der Küche erschien und die CD in einer Seitentasche verstaute.
» Du tust ja gerade so, als ob ich dich dazu gezwungen hätte«, erwiderte Jette gekränkt.
» Lass mich in Zukunft bloß in Ruhe mit so was, klar. Ich hab echt keine Zeit für solchen Mist, Jette!« So hart hatte Teri es gar nicht sagen wollen. Es war einfach so aus ihr herausgeplatzt und sie ahnte, wie brutal das bei Jette ankommen musste.
» Okay, Teri. Und was ist mit unserer Freundschaft, fällt die jetzt auch in die Kategorie › Mist ‹ , oder wie sehe ich das?«, fragte Jette.
Teri antwortete nicht. Sie wusste nicht, was sie Jette sagen sollte.
Hatte ihre Freundschaft denn überhaupt noch eine Bedeutung für sie? Was war für Teri außer Louisa überhaupt noch wichtig?
» Weißt du, Teri, man kann’s auch übertreiben. Ich sehe ja ein, dass es dir wegen Louisa nicht gut geht, sie ist deine Schwester und du hast sie lieb. Aber mich musst du deshalb noch lange nicht wie Scheiße behandeln, klar?«
Teri blickte ihr schweigend nach, als sie die Küche verließ, und sah im Spiegel, wie Jette sich im Flur ihren Mantel schnappte und in ihre Stiefel stieg. Als sie fertig angezogen war und ihren Rucksack über die Schulter geworfen hatte, warf sie einen Blick zurück, sagte aber nicht › Auf Wiedersehen ‹ oder wie sonst immer › man sieht sich ‹ , sondern ging einfach und schlug die Tür mit einem Knall hinter sich zu.
Die Wahrheit sagen
Seit Louisa wieder zur Schule ging, fühlte sie sich oft wie ausgelaugt, erschöpft und manchmal auch ganz leer. Dieses tägliche Einerlei war so ermüdend. Schule, Hausaufgaben, Essen, Schlafen, zweimal in der Woche Krankengymnastik, manchmal Arztbesuche mit stundenlangen Wartezeiten, bis sie endlich dran war. Dazu die Übungen, die sie zu Hause machen sollte. Treppensteigen, Dehnübungen, ihre Finger trainieren, besonders die der linken Hand. Das war nicht nur anstrengend, das tat auch häufig weh. Sie hatte Rücken- und Gliederschmerzen und manchmal zu gar nichts mehr Lust. Allerdings rappelte sie sich jedes Mal schnell wieder auf und zwang sich zum Weitermachen, denn schließlich hatte sie ein Ziel.
Sie lernte jetzt immer lange, manchmal war es bereits Nacht, wenn sie endlich die Bücher zuschlug. Sie büffelte Englisch -V okabeln, bis ihr schon die Augen zufielen, während ihr Zeigefinger zitternd die eng bedruckten Seiten des Wörterbuches
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