Als ploetzlich alles anders war
dann immer ein schlechtes Gewissen habe«, sagte Jette zerknirscht.
» Ein schlechtes Gewissen, du? Warum das denn?«, fragte Teresa verblüfft.
» Weil ich froh bin, dass mir so was nicht passiert ist. Weil niemand sich vorstellen will, wie das ist, so plötzlich im Rollstuhl zu sitzen. Oder meinst du, dass irgendjemand mit Louisa tauschen will? Du hast doch auch ein schlechtes Gewissen, ich weiß genau, warum du dir immer so verdammt viel Mühe gibst, es Louisa bloß recht zu machen.«
Teresa fühlte sich ertappt, wie so oft, wenn Leute solche Bemerkungen machten. Dann kam sie sich wie eine Betrügerin vor. Sie solle sich nicht so aufopfern, sagte Mama manchmal, als wäre Teri so was wie eine Heilige, die aus Liebe zu ihrer Schwester alle ihre Bedürfnisse völlig in den Hintergrund stellte. Sie liebte Louisa, daran bestand kein Zweifel, aber sie brachte diese Opfer doch in erster Linie deshalb, weil sie sonst an ihren Schuldgefühlen erstickt wäre. Teri wünschte so sehr, sie besäße den Mut, endlich alles zu sagen. Zu beichten, was sie getan hatte. Damals hatte sie Jette ja nicht einmal von dem Jungen erzählt und über das andere hatte sie sowieso geschwiegen. Ironischerweise schoss ihr das Bild des Jungen besonders in den letzten Tagen immer wieder durch den Kopf und sie hätte es herausschreien mögen: Wegen eines Jungen, den ich irgendwie süß fand, sitzt meine Schwester jetzt im Rollstuhl.
Das war so ein furchtbar peinigender Gedanke. Wenn er auftauchte, ließ er sich nicht mehr abstellen und dann breitete sich immer ein grässliches Gefühl in Teresa aus, das sich mit Worten gar nicht beschreiben ließ.
Alles Vertraute bekam bedrohliche Züge. Wurde fremd und unzugänglich für Teri. Sie erkannte sich in ihren Gefühlen und Gedanken ja selbst kaum wieder, hatte sich auch äußerlich sehr verändert, war dünn geworden und das einst leuchtend blonde Haar hing ihr jetzt immer strähnig ins Gesicht, weil sie es inzwischen nur einmal in der Woche wusch, anstatt wie früher jeden zweiten Tag. Auch Klamotten waren ihr zunehmend egal, manchmal fischte sie einfach aus irgendeinem Haufen ein Teil heraus, das sie am schnellsten zu fassen bekam.
Louisa hätte genauso gut sterben können, eigentlich ist es ein Wunder, dass sie den Unfall überlebt hat. Auch daran musste sie immer wieder denken. Louisa behauptete, sie könnte sich an diesen verhängnisvollen Nachmittag kaum noch erinnern. Aber eines Tages käme die Erinnerung bestimmt zurück und dann würde Teri alles beichten müssen. Einerseits hatte sie Angst vor diesem Augenblick, aber manchmal sehnte sie ihn auch herbei.
» Ich würde das nicht machen«, sagte Jette jetzt.
» Was?«, fragte Teri und schloss die Wohnungstür auf.
» Ich würde auf keinen Fall mit Fee und Hatice reden.«
» Warum denn nicht?«, Teri schlüpfte in die Wohnung, ließ Jette vorbei und schloss die Tür.
» Louisa wäre bestimmt sauer, wenn du es tust«, wandte Jette ein.
» Sie muss es ja nicht erfahren«, sagte Teresa. Dann zogen sie beide ihre Mäntel und Stiefel aus, stellten die Stiefel neben die Tür und hängten die Mäntel an den Haken.
Es war eine Weile her, seitdem Jette bei Teresa gewesen war. Früher hatten sie nach Schulschluss beinahe jeden Nachmittag zusammen verbracht, mal bei Jette, mal bei Teresa. Jetzt verabredeten sie sich nur noch selten, wenn ja, dann vereinbarten sie entweder irgendwo einen Treffpunkt oder trafen sich bei Jette, die ein großes, gemütliches Zimmer und keine Geschwister hatte. Ihre Eltern waren so selten da, dass es immer angenehm ruhig in der Wohnung war. Heute hatte Teresa auch keine Lust auf Jettes Gesellschaft gehabt, sondern wie jeden Tag nur auf Louisa warten, dann mit ihr essen und vielleicht eine Nachmittagsserie im Fernsehen anschauen wollen. Nur sie beide und niemand, der sie stören konnte.
Aber diesmal hatte Jette sich einfach nicht abschütteln lassen, sie musste ja unbedingt von dem Tanzkurs erzählen und merkte offenbar gar nicht, wie wenig Teresa das im Augenblick interessierte. Andererseits wollte sie Jette auch nicht schon wieder einen Grund geben, sauer auf sie zu sein. Es war so anstrengend und frustrierend, dauernd zu streiten. Teresa vermisste die alte, unkomplizierte Freundschaft, die wie so vieles aus der Zeit vor dem Unfall bloß noch eine traurige Erinnerung war. Wie unbeschwert sie damals waren, wie glücklich, ohne es zu wissen. Die Tragödien und Katastrophen spielten sich woanders ab. Aber dann war
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