Als ploetzlich alles anders war
hinunterfuhr.
Abandoned-verlassen – so wie ich, dachte sie. Ein Wort, das sie sich bestimmt merken würde, während sie die meisten anderen am nächsten Morgen schon wieder vergessen hätte. Mit jedem Tag verstärkte sich das Gefühl, den anderen in allem buchstäblich nur hinterherzuhinken. Vermutlich lohnte sich diese ganze Mühe nicht einmal, dachte Louisa oft, wenn eine besonders heftige Kopfschmerzattacke ihren Kopf in tausend Stücke zu sprengen drohte und sich alles vor ihren Augen drehte. So war sie vor ein paar Tagen während eines solchen Anfalls gleich zu einem der Wasserspeier im Flur geflohen. Hatte getrunken und sich Wasser auf die pochenden Schläfen getupft. Dabei hatte sie ein paar Sätze aufgeschnappt, als eine Mitschülerin im Vorbeigehen über sie sprach. Das Mädchen aus der Parallelklasse hatte Louisa nicht bemerkt und ungeniert abgelästert.
‚Die kann einem echt leidtun, ihr wisst doch, wen ich meine, die mit den Locken aus der Sechsten, die Schlittschuhtussi, die sogar schon mal im Fernsehen war … na ja, jetzt ist es damit natürlich vorbei, die kann ja nicht mal mehr laufen … also wenn ich jetzt wie die voll der Spast wäre …
» Bist du aber nicht«, hatte Louisa ihnen zugerufen, nachdem sie sich ordentlich Schwung gegeben hatte und schnell an der Gruppe der drei Mädchen vorbeigerollt war, die bei ihrem Auftauchen alle rote Köpfe bekommen hatten. Leider war sie nicht immer so schlagfertig. Meist zogen sie solche Erlebnisse eher runter und raubten ihr dann auch vorübergehend jeglichen Mut.
Am ersten Advent schneite es wieder. Diesmal war es kalt genug und der Schnee blieb liegen. Bald hatte er zentimeterdicke Hauben über Straßen, Dächer und Autos gebreitet. Doch in diesem Jahr wirkte der Weihnachtszauber nicht. Der erste Advent nach dem Unfall war automatisch verknüpft mit der Erinnerung an den vom letzten Jahr– als die Welt der Familie Becker noch in Ordnung war.
Seit Louisa denken konnte, backte Mama diese leckeren Mandel-Nougat-Plätzchen, deren Duft sich inzwischen ganz automatisch mit dem Gedanken an die Weihnachtszeit verband. Im letzten Jahr Anfang Dezember war Louisa schon sehr aufgeregt wegen des bevorstehenden Weihnachtsschaulaufens gewesen. Ein paar Tage zuvor hatte sie mit Mama ihr Kostüm besorgt, ein schillerndes blaues Seidentrikot mit Tüllrock, Strasssteinen und Pailletten.
Papa hatte Louisas Auftritt gefilmt und an Weihnachten hatten sie sich die DVD zusammen angesehen. Louisa war so stolz und glücklich gewesen, weil ihr dieser eine Sprung, für den sie monatelang trainiert hatte, so perfekt gelungen war.
In diesem Jahr kam am ersten Advent Mamas alte Schulfreundin Veronika zu Besuch, die ein Jahr in den Staaten gewesen war und Louisa nach dem Unfall noch nicht gesehen hatte. Louisa fürchtete sich ein wenig vor dieser Begegnung. Es war immer problematisch, wenn sie Leute traf, die sie nur aus der Zeit vor dem Unfall kannten. Keiner wusste dann so recht, was er sagen sollte, sodass alle Beteiligten froh waren, wenn sie sich endlich wieder verabschieden konnten. Besonders ihre verlegenen Blicke und die nervösen Gesten, die den meisten von ihnen vermutlich nicht einmal bewusst waren, zeigten Louisa ihre Betroffenheit. Das deprimierte sie jedes Mal so sehr, dass sie wieder eine ganze Weile brauchte, bis sie sich von so einer Begegnung einigermaßen erholt hatte.
Als Veronika kam, deckte Teri gerade den Tisch im Wohnzimmer. Louisa wunderte sich auch jetzt wieder, wie sehr sich Teri inzwischen um jede Hausarbeit riss. Mama musste sie gar nicht erst fragen, Teri bot von selbst ständig ihre Hilfe an. Jetzt faltete sie die Servietten zu kleinen hutartigen Gebilden, die sie auf die Teller stellte.
» Das sieht schön aus«, sagte Louisa spontan, um einfach mal nett zu sein. Seit der Szene neulich, als Louisa ihre Schwester und Jette beim Tanzen überrascht hatte, benahm Teri sich fast so, als wäre sie bei was ganz Schlimmem ertappt worden, wie beim Klauen beispielsweise. Sie wurde immer stiller, war furchtbar schreckhaft, manchmal hatte sie morgens so verquollene Augen, als hätte sie die ganze Nacht geweint.
» Die findest du schön?«, fragte Teri überrascht und betrachtete die Serviettengebilde mit gerunzelter Stirn. » Ist ganz simpel, das kann jeder.«
» Ich könnte das nicht«, sagte Louisa. Das war witzig gemeint, aber bei Teri kam es offenbar wie ein versteckter Vorwurf an.
» Das war blöd von mir, sorry«, murmelte Teri und verließ
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