Als ploetzlich alles anders war
Hälften.
» Fast hätte ich es vergessen«, sagte Mama plötzlich aufgeregt, rannte in die Diele und kam mit einem Päckchen zurück, das sie mit einem verschmitzten Lächeln vor Louisa auf den Tisch legte.
» Das wirst du jetzt brauchen«, sagte sie und blickte Louisa erwartungsvoll an, als sie das Päckchen aufriss und ein nagelneues himmelblaues Handy aus dem Papier wickelte.
» Und? Ist es cool ?«, fragte ihre Mutter gespannt.
» Es ist okay, danke, Mama.«
Louisa freute sich wirklich darüber, obwohl die Freude jetzt viel weniger intensiv als früher und mit so einem nadelfeinen Schmerz verbunden war. Aber nützlich war das Handy auf jeden Fall.
» Das kann doch unmöglich schon der Fahrdienst sein«, rief Mama erschrocken, als es klingelte. » Wir hatten doch drei viertel acht abgemacht.«
Während Louisa ihren dicken Mantel anzog, bekam sie plötzlich heftiges Herzklopfen. Ihr linker Arm kam in den Jackenärmel nicht gleich richtig rein, die Finger krümmten sich, krallten sich in den Stoff. Oh, wie wütend sie das immer machte, immer und überall nur auf Widerstände zu stoßen und fast pausenlos diese ermüdenden Kämpfe gegen ihren widerspenstigen Körper ausfechten zu müssen.
Diesmal fragte ihre Mutter nicht, diesmal half sie einfach, ohne auf Louisas trotziges Fauchen zu achten.
Dann klappte sie den Faltrollstuhl auf, der immer vor der Wohnungstür stand, und Louisa setzte sich hinein. Glücklicherweise hatten sie einen Fahrstuhl im Haus. Sonst hätten sie nach Louisas Unfall umziehen müssen. Mithilfe ihrer Krankengymnastin hatte Louisa das Treppensteigen inzwischen zwar wieder gelernt, sie sollte auch möglichst viel laufen, damit ihre Muskeln nicht verkümmerten, aber das war so mühsam, dass Louisa meistens doch lieber den Fahrstuhl benutzte.
» Du brauchst nicht mit nach unten zu kommen, Mama«, sagte Louisa.
» Und wie willst du allein die Haustür aufmachen?«
Louisa schwieg, das mit der Haustür musste sie widerspruchslos hinnehmen. Die kriegte man wirklich nur schwer auf.
Draußen schlug ihr die frostige Luft entgegen, nasse, schwere Schneeflocken klatschten Louisa ins Gesicht, blieben an ihren Wimpern hängen.
Behindertenfahrdienst Bertram, stand auf dem Kleinbus, der in zweiter Spur mit laufendem Motor vor der Haustür parkte. Ein Mann schwang sich vom Fahrersitz und kam ihnen entgegen.
Ein Junge mit Down-Syndrom drückte sich die Nase an den beschlagenen Busfensterscheiben platt. Dahinter war der auf einer Nackenstütze ruhende Kopf eines Mädchens mit flammend rotem Haar zu sehen.
» Hallo, Louisa«, sagte der Busfahrer, als würden sie sich schon wer weiß wie gut kennen. Dabei sahen sie sich heute zum ersten Mal. » Ich bin Stiepe, dein ganz persönlicher Chauffeur!«
Noch so einer, dachte Louisa. Wie dieses kumpelhafte Getue nervte, als wären sie alle eine verschworene Gemeinschaft. Dabei konnten sich bestimmt nicht mal die Ärzte, die Louisa behandelt hatten, auch nur annähernd vorstellen, wie so ein Leben wie ihres jetzt wirklich war.
» Tschüss, Louisa, und viel Glück«, sagte ihre Mutter leise, als Stiepe ihr den Rollstuhl abnahm und über eine Rampe in den Bus hineinschob.
» Ich bin Bernd. So wie Bernd, das Brot«, rief der Junge, hampelte auf seinem Sitz herum und lachte.
Das Mädchen, das auch in einem Rollstuhl saß, der aber viel größer als Louisas war– ein wuchtiges Ungetüm mit Hebeln– konnte offenbar nur ihren Kopf bewegen, ihn aber nicht anheben, sondern nur von einer Seite zur anderen drehen.
» Hallo«, sagte sie in einer schleppenden Sprache, wobei sie sich um Deutlichkeit bemühte. » Ich bin Tinka!«
» Hallo, ich bin Louisa.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Am liebsten wäre sie die Rampe rückwärts gleich wieder auf die Straße gerollt und geflüchtet. Sie war nicht so wie Tinka und Bernd. Sie gehörte hier nicht hin. Die beiden waren– ja, was waren sie? Behindert? Aber das war sie ja jetzt auch. Machte es wirklich einen Unterschied, dass die beiden es vermutlich schon seit ihrer Geburt waren und Louisa erst seit ein paar Monaten? Willkommen im Club oder was?
» Und jetzt geht’s wieder los, Leute«, rief Stiepe und Bernd klatschte in die Hände. » Sind alle angeschnallt?«
» Jaaa«, rief Bernd und lachte schallend. » Alles Roger, Stiepe, flieg los.«
» Der spinnt manchmal«, flüsterte Tinka Louisa zu.
» Du spinnst aber auch, Tinka«, rief Bernd und lachte. » Alles Spinner hier, alles Spinner!«
» Klar doch, Bernd,
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