Als ploetzlich alles anders war
durch den Flur, wo ihr wegen der laut knarrenden Dielen die schwerfällige Tapsigkeit ihrer Schritte immer besonders bewusst wurde. Auf Zehenspitzen herumschleichen war jetzt logischerweise nicht mehr drin. Louisas Schritte waren so unverwechselbar, dass ihre Familie immer schon vorgewarnt war, falls sie mal über was redeten, was nicht für Louisas Ohren bestimmt war.
Ihre Schwester und ihre Eltern saßen schon am Frühstückstisch. Papa brummte sein » Guten Morgen « in den Tee. Seit dem Unfall schaute er Louisa kaum noch an. Wenn, dann nur verstohlen. Louisa spürte es jedes Mal, wenn er seine Blicke fast ängstlich über ihr Gesicht und ihren Körper schweifen ließ. Er packte das nicht so gut wie Mama, dass seine tolle Tochter jetzt behindert war. Er weigerte sich, dieses Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. In letzter Zeit war er auch immer seltener zu Haus. Angeblich hatte das mit seiner Arbeit zu tun, aber Louisa kam es eher vor wie eine Flucht.
Seit dem Unfall gab es auch zwischen ihren Eltern viel häufiger Streit. So hatte Papa auch immer einen guten Grund, danach gleich abzuhauen.
» Hier ist es ja nicht mehr auszuhalten«, hatte er schon mehr als einmal gebrüllt.
Und wenn er eines Tages für immer verschwindet, dachte Louisa, als ihr Vater mit dem Frühstück fertig war und wortlos den Tisch verließ.
Mama wirbelte hektisch vor der Küchenzeile hin und her. Schmierte Louisas Schulbrote, legte sie in die Dose und verstaute sie in Louisas Schultasche. Die hatte Louisa gestern Abend schon gepackt, damit sie genug Zeit hatte, es ordentlich zu machen. In der Schule würde ihr ja auch keiner helfen. Da war sie ganz auf sich allein gestellt. Als sie daran dachte, versteifte sie sich gleich noch mehr. Der erste Schultag nach vier Monaten, wie würde das sein? Würde sie den Entschluss, in die alte Schule zurückzukehren, nicht doch bereuen? Immerhin hatte sie zwei Monate des neuen Schuljahres versäumt und sich den ganzen Stoff nur mit Nachhilfestunden eingebläut. Doch sie wollte es unbedingt versuchen. Es hing so viel davon ab, wie es jetzt für sie in der Schule lief. Wie würden die Leute aus ihrer Klasse reagieren? Fee und Hatice hatten sie zwar hin und wieder zu Hause besucht. Aber das letzte Mal war jetzt auch schon wieder zwei Wochen her. Louisa war so mies drauf gewesen, dass sie sich über den Besuch ihrer Freundinnen nicht mal richtig gefreut hatte, sondern insgeheim furchtbar neidisch auf die beiden gewesen war. Die hatten sich auch verändert, aber weil sie sich verändern wollten. Fee trug jetzt einen hellblauen Glitzerstein im Nasenflügel. Nur angeklebt, sagte sie, aber später, wenn sie sechzehn war, wollte sie unbedingt ein richtiges Piercing haben. Schön für dich, hatte Louisa böse gedacht. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was sein würde, wenn sie sechzehn war.
» Hast du schon gesehen, dass es geschneit hat, Louisa?«, fragte ihre Mutter munter, als sie in die Küche zurückkam. Sie hatte sich eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit Louisa bewahrt. Zumindest versuchte sie, nicht alles immer gleich unnötig zu dramatisieren.
» Schnee, na super«, erwiderte Louisa schroff. Teresa warf ihrer Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. Es gab Themen, die schnitt man seit Louisas Unfall einfach nicht mehr an. Ein ungeschriebenes Gesetz, das aber besonders Mama hin und wieder vergaß. Schnee bedeutete für Louisa nur neuen Frust. Mit dem Rollstuhl käme sie bei dem Wetter niemals klar und Laufen kam für sie draußen sowieso nicht infrage. Verdammter Scheißschnee, dachte sie. Und früher hatte sie den Winter geliebt.
» Nun ist es also so weit«, sagte Mama und blickte Louisa abwartend an.
» Kann mir mal jemand bitte das Brötchen aufschneiden«, sagte Louisa, ohne auf die Frage ihrer Mutter einzugehen. Auf keinen Fall würde sie irgendetwas preisgeben. Vielleicht noch erzählen, dass sie die halbe Nacht vor Aufregung kaum geschlafen hatte. Dass sie das große Flattern bekam, wenn sie sich vorstellte, wie sie in die Klasse rollte und alle sie anstarren würden, als wäre sie die Attraktion einer Freak-Show. Vielleicht würden sie auch nur verlegen an ihr vorbeisehen oder ihr wie Papa verstohlene Blicke zuwerfen.
Mamas Trost würde ihr auch nicht helfen. Trost fühlte sich klebrig und falsch an. Wie ein Pflaster, das man immer wieder auf eine Wunde klebt, die nicht zu bluten aufhören will.
» Klar doch, Louisa«, Teresa fischte ein Brötchen aus dem Korb und schnitt es in zwei
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