Als wäre es Liebe
Politik, ihren Umgang mit ihm verteidigen mussten, der sich auf nichts anderes gegründet habe als auf Rache.
Es ist ein seltsames Wort, wenn ich es vor mir sehe, bleibt es unvollkommen; ohne es zu wollen, mache ich einen Plural aus diesem Wort, und es verwandelt sich vor meinen Augen in einen Schlund, einen Rachen, einen gigantischen Rachen, durch den ich, eine Kerze in der Hand, hinabwandere. Dann tausche ich den ersten Vokal, und dieses Wort wird zu einem Fisch, ich sehe ihn vom Meeresgrund aus über mir hinwegschweben, als Schatten im sonnendurchfluteten Wasser. Wenn ich mich auf die Mitte dieses Wortes konzentriere, sehe ich einen Ausdruck des Erstaunens, eines gespielten Erstaunens, vor allem am Satzanfang geschrieben: Ach, du bist es? Ach, das wusste ich nicht. Es ist ein erstaunliches Wort, nicht nur, weil es mir beim Anblick sofort Bilder projiziert, sondern weil es darüber hinaus so tut, als gebe es nur die eine Rache für alle. Ein Wort ohne Plural, als hätte nicht jeder Mensch einen anderen Auslöser, als sei es gleich, ob man den anderen ersticht, ihm einen Streich spielt oder ihm zeitlebens mit Argwohn begegnet. Vielleicht weil alles nur den einen Sinn hat: den anderen zu verletzen. In seiner Körperlichkeit, seiner Ehre, seiner Liebe. Ich hörte einen Sohn zu seiner Mutter sagen: Ich wünschte, ich wäre ein Waisenkind. Der Wunsch, ein Waisenkind zu sein, war seine Rache dafür, dass sie keine Mutter sein wollte. Andere Mütter verletzt so etwas. Sie sagen: So etwas sagt man nicht zu seiner Mutter. Aber meine Mutter sagte nichts.
Mein Vater sagte, eines Tages, wenn ich älter sei, wäre es mir vielleicht möglich, sie zu verstehen.
Bezüglich der Mutter wird gesagt, dass sie sich schon in der ersten Zeit ihrer Ehe nicht für ihre Kinder interessierte. Der Sohn und die Tochter waren sich selbst überlassen und trieben allerlei Unfug. Sie teilten sich in ihrer Kammer ein Bett und spielten gegenseitig an ihren Geschlechtsteilen. Es heißt, sie küssten sich nicht wie Geschwister, sondern wie Liebende. Die Schwester kam daraufhin in ein Erziehungsheim. Die Mutter galt als »abnorme, nämlich theatralisch-geltungsbedürftige, pseudologistische, reizbar-explosible und sexuell haltlose Persönlichkeit«. Das Jugendamt sprach dem Vater das Sorgerecht zu, da war der Sohn vierzehn Jahre alt. Schon mit vierzehn hatte der Sohn den Trieb, Frauen anzufallen, um sie zu küssen, und wenn es ging, geschlechtlich zu gebrauchen. Als Kind beobachtete er, wie betrunkene Landarbeiter ein betrunkenes Mädchen nackt auszogen und umherhetzten. Er hat daraufhin den Wunsch verspürt, auch einmal ein solches Mädchen für sich zu haben. Er lauerte den Mädchen auf dem Weg zur Schule auf, zog sie vom Weg ab, warf sie zu Boden, zog ihnen den Rock und den Schlüpfer aus. Nach seinen Hobbys gefragt, antwortete er: Briefmarken sammeln. Später erzählte die Mutter allen, ihr Sohn sei in der Fremdenlegion erschossen worden. Woraufhin sie sechs Wochen lang Schwarz getragen hat. Vor Gericht sagte sie gegen ihren Sohn aus. Er sei nicht sonderlich helle, sagte sie. Tumb. Schwer von Begriff. Rachsüchtig. Hinterhältig. Könnte sie ihn rückgängig machen, sagte sie, würde sie ihn rückgängig machen. Trotz allem liebte er seine Mutter. Nachdem sie die Kinder verlassen hatte, war er ihr damals nachgereist, bis in die Schweiz. Er hatte ihr immer wieder aus dem Gefängnis heraus Briefe geschrieben, obwohl sie keinen einzigen beantwortet hatte.
Sie machte mir Vorwürfe, aber das war in der Zeit, bevor ich anfing, ihr zuzuhören. Sie sagte, mir sei die Welt egal. Ich würde all die Ungerechtigkeit tolerieren. Meine Generation habe keine Ideale mehr. Es gehe ihr nur um ihr eigenes kleines Glück. Ein bisschen Spaß, ein bisschen Geld, mehr Erwartungen scheine sie nicht zu haben. »Ihr lasst euch ausbeuten und seid froh darüber, überhaupt eine Arbeit zu haben. Ihr seht, wie die einen immer reicher werden, aber das ist euch egal, solange ihr ein bisschen etwas habt. Ihr macht alle vier Jahre ein Kreuz und denkt, dass sich nichts ändern lässt. Auf diese Weise lässt sich auch nichts ändern.« Sie bezeichnete mich und meine Generation als Wohlstandsdemokraten. Ich kann mich erinnern, dass ich ihr, ich war achtzehn geworden, kurz nach meiner Rückkehr, von meiner Interrail-Reise erzählte. Ich war zwei Monate durch Europa gereist, Frankreich, Spanien, Portugal. Ich hatte mir einen Rucksack gepackt und mir vorgenommen, die tausend Mark,
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