Als wäre es Liebe
wahrscheinlich war es eine dieser Lügen, die man Kindern erzählte. Als er aus dem Wasser kam, legte sie ihm das Handtuch über die Schultern, und so stand er eine Weile am Ufer, das Handtuch um den Körper gehängt, das zu klein war und nur seinen oberen Rücken bedeckte. Aus seinen Haaren fielen die Tropfen und liefen ihm über die Schläfen die Wangen hinunter. Es hieß, dass er während der Vernehmung, nachdem sie ihn verhaftet hatten, geweint habe. In den Protokollen stand, dass er die Fotos seiner Opfer nicht habe sehen wollen, dass die Polizisten die Vernehmung mehrmals unterbrechen mussten, weil ihm immer wieder die Stimme versagt habe und ihm die Tränen gekommen seien.
Dem Pfarrer hat Friedrich erzählt, dass er jede Nacht an die Frauen dachte: Sie fuhren zur Arbeit, sie lasen in der Straßenbahn, sie machten sich auf den Weg nach Hause, sie kochten sich Kaffee, ließen die Dosenmilch hineintröpfeln und sahen zu, wie sich der Kaffee verfärbte, sie zogen sich aus und legten ihre Kleider über einen Stuhl, sie schliefen bei geöffnetem Fenster im Parterre, sie trafen sich mit Freundinnen und kicherten hinter vorgehaltener Hand, sie standen aufgeregt am Bahnsteig und bestiegen voller Vorfreude den Zug, sie packten ihre Brote aus, schälten ihre Eier und stellten die Thermoskanne neben sich, mit feuchtem Finger drückten sie die Splitter der Eierschalen vom kleinen Tisch am Fenster und sammelten sie im leeren Brotpapier, sie sahen den dunklen Wald vor sich und nahmen den Weg, der ihnen auch im Dunkeln so vertraut war, weil sie ihn jeden Morgen und jeden Abend gingen, sie kehrten beim Bäcker ein, am Kiosk kauften sie sich die Quick und blätterten an der Straßenbahnhaltestelle durch die Seiten, sie blieben vor dem Kino stehen und betrachteten die Ankündigungen von »Nitribit« und »Rififi bei den Frauen«, sie fuhren mit dem Fahrrad durch das Dorf und bogen dann in den Feldweg ein, vorbei an den Wiesen mit ihren Wucherblumen, ein paar Bienen tauchten gerade in die Blütenkelche, sie lagen am Ufer eines Sees, die Arme gegen die Sonne gestreckt, und lasen Die unsichtbare Flagge ; all das sah er jede Nacht und verstand nicht, warum er sie nicht aufwachen sah am nächsten Morgen, nicht sah, wie sie Die unsichtbare Flagge in die Handtasche steckten, die Hosen und Pullover anzogen, die Socken und Schuhe, wie sie die Fahrräder vor dem Haus abstellten und die Tür aufschlossen, wie sie aus dem Zug stiegen und das Meer betrachteten, das vor ihnen lag, wie sie den dunklen Wald hinter sich ließen und sich den Lichtern der Häuser näherten, wie sie morgens aufwachten, die Kleider vom Stuhl nahmen, ins Bad gingen und beim Verlassen des Hauses von der Mutter einen Kuss auf die Stirn bekamen. Er wusste, dass er ihnen begegnet war, er sagte, dass er aber keine Bilder von diesen Begegnungen im Kopf hätte. Er beschrieb, was er getan hatte, was geschehen war, aber er war ein Erzähler ohne Film: eine Stimme aus dem Off.
Stets war nur in mir gegenwärtig, ich müsse Geschlechtsverkehr haben. Es war ein Spannungszustand plötzlich in mir, da suchte ich nach einer Frau, bis ich sie fand. In mir fieberte alles; ich musste eine Frau haben, und wenn sie sechzig Jahre alt gewesen wäre. Welche Mittel ich zur Gewalt anwenden wollte, habe ich mir vorher nie überlegt; das ergab sich aus dem Augenblick. Ich stach dann zu, würgte, schlug Gegenstände und Steine auf den Kopf, bis die Frau still war und ich sie gebrauchen konnte.
Sie konnte nicht anders, sie hatte ihm mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tropfen aus dem Gesicht gewischt. Ein leichtes Zittern hatte seinen Körper erfasst. Erst die Hände, dann seinen Oberkörper. Sie bückte sich und hob seine Kleider auf. Er nahm den Haufen und zog sich vor ihr um.
Sie sieht, dass der Mann am rechten Ufer beide Arme gehoben hat. Er winkt. Sein Winken aber gilt nicht ihr. Sein Blick ist dem See zugewandt. Jetzt erst sieht sie die Frau, die auf ihn zuschwimmt. Sie schiebt kleine Wellen vor sich her, so ruhig ist die Oberfläche, dass es sogar vom Ufer aus zu sehen ist. Sie schwimmt, bei dieser Kälte, zu dieser Jahreszeit. Sie nähert sich dem Ufer, und der Mann hält ein Handtuch bereit. Dann steigt sie aus dem Wasser. Sie trägt einen schwarzen Neoprenanzug, der ihr von den Füßen bis zum Hals reicht.
Die Frau braucht eine Weile, bis sie ihn abgestreift hat. Sie öffnet den Reißverschluss und rollt ihn von oben nach unten vom Körper. Der Mann steht hinter ihr und hüllt sie
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