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Als wäre es Liebe

Als wäre es Liebe

Titel: Als wäre es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicol Ljubic
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ihn für den Mörder gehalten hatten. Ein großes Polizeiaufgebot musste ihn vor dem Justizgebäude und im Gerichtssaal vor Wutausbrüchen der Bevölkerung schützen. Und weil sie ihn weder lynchen noch hinrichten durften, schlossen sie ihn für immer weg. Und er hat es ihnen leicht gemacht. Er sprach von der natürlichen Ordnung, in der die Menschen lebten und in der er ein gewolltes Stück sei, ein Verbrecher, so wie der Psychiater ein Psychiater sei und der Richter ein Richter. Er hat die Rolle angenommen, die sie ihm zugeschrieben haben. In seiner Ordnung war er der Verbrecher. Sein Denken war naiv, seine Versuche, dem Leben eine Ordnung zu geben, waren die Versuche eines Kindes. Kein Mensch ist ein von Gott gewollter Verbrecher, und kein Mensch ist ein von Gott gewollter Richter. Es sind die Verhältnisse, die vorgeben, was aus einem Menschen wird. Und Verhältnisse sind von Menschen geschaffen. Und sie lassen sich verändern, das dachte sie zumindest. Hatte sie ihm zu große Hoffnung gemacht auf ein Leben in Freiheit? Hatte sie ihn nicht darin bestärkt, für sein Recht zu kämpfen? Aber hatte nicht eine Kammer des Verfassungsgerichts sogar entschieden, dass sein schlechter Gesundheitszustand es gebiete, seine Entlassung vorzubereiten? Sie weiß nicht, woher das Gefühl auf einmal kam, ihn betrogen zu haben. Sie hatte ihm doch nie ein Leben zu zweit in Aussicht gestellt. Sie hatte ihm nicht mal gesagt, wie geborgen sie sich unter seiner Hand gefühlt hatte. Aber vielleicht war es das ja gerade, dass sie ihn im Unklaren darüber gelassen hatte, warum sie seine Nähe suchte. Es ging ihr nicht darum, einen Alltag mit ihm zu haben. In ihren Gedanken waren sie auf Reisen. Und sie macht nichts, als ihn dabei zu beobachten, wie er die Welt entdeckt, sein Staunen und seine Freude darüber.
    Säße er jetzt neben ihr, nur sie und er, unterwegs, die Welt hinter den Scheiben. Sie verspürte keine Lust, irgendwo anzuhalten und auszusteigen. Säße er neben ihr, sie wäre immer weitergefahren. Aber dann fällt ihr wieder ein, wie er sich im Auto quälte. Für ihn wäre es eine Tortur geworden. Er hätte von der Welt da draußen nicht viel mitbekommen. Und vielleicht ist es besser, dass sie diese letzte Reise allein macht.

Meine Mutter fing an, von der Ungerechtigkeit zu sprechen, dass sie an ihm ein Exempel statuiert hätten, die Volksseele beruhigt. Und wie stoisch er diese Ungerechtigkeit ertragen habe. Er habe nie die Fassung verloren, nie geschrien oder Beamte attackiert, er habe sich nie den Kopf blutig geschlagen oder sich die Adern aufgeschnitten. Er habe ihr gezeigt, wie die anderen das machten, habe einen Löffel genommen, ihn am Sandstein seines Fenstersims gefeilt, mit Geduld machte man so ein zweischneidiges Messer. Ein einziges Mal habe er sich gewehrt. Er habe nachts aus seiner Zellentür, die aus sechs Zentimeter dickem Eichenholz mit doppelter Füllung bestand, zwei der Füllungen herausgewuchtet, als sei es die leichteste Sache der Welt. Er benutzte dazu ein Messer, das er sich aus der Buchbinderei beschafft und einen Eisenstab, den er von seinem Bettgestell abgebrochen hatte. Er ist dann durch die Öffnung geklettert. Das Gleiche tat er bei einer weiteren Tür und ist dann in die Buchbinderei gegangen, »eingedrungen« habe in den Akten gestanden, aber das stimmte nicht, wie meine Mutter sagte. Dort hätten sie ihn morgens gefunden, am Tisch schlafend, seinen Kopf auf ein Buch gelegt. Sie hätten ihm einen Ausbruchsversuch unterstellt und ihm Einzelarrest verordnet. Vierzehn Tage in einer Kellerzelle. Kahle Wände, eine Matratze, eine Kanne Wasser, ein Nachttopf und zweimal am Tag eine Mahlzeit aus Weißbrot und Wurst. Sie wisse, dass er nicht versucht habe, auszubrechen – es sei ein stiller Protest gewesen. Und dann sei er auch noch auf einem Buch eingeschlafen. Ein Buch sei doch ein Synonym für die Stille, das Introvertierte, ein Buch sei kein Messer! Sie hätten mit seinem Widerstand nichts anfangen können. Er habe sich ihre Anschuldigungen angehört und geschwiegen. Später habe Friedrich gesagt, er wolle nicht in Freiheit, solange da draußen Frauen Angst vor ihm hätten. Er habe nicht verstanden, dass sie solche Aussagen gegen ihn verwendeten. Sie haben verstanden, dass die Frauen nach wie vor Grund hätten, Angst vor ihm zu haben, und dass diese Angst auch gerechtfertigt sei. Dass man ihm auch Empathie hätte zuschreiben können, Sorge und Mitgefühl, ließen sie nicht zu. Weil sie ihre

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