Als wäre es Liebe
die mein Vater mir zur Sicherheit mitgegeben hatte, nicht anzutasten. Ich schlief in Hostels oder Jugendherbergen, manchmal auch, wenn es warm genug war, im Freien. An manchen Tagen hätte ich mich nur von Keksen und Wasser ernährt. Ich erzählte ihr, dass ich auf dieser Reise eine warme Dusche zu schätzen gelernt hätte und dass viele in meinem Alter solche Reisen machten und dass es eine Erfahrung sei, die bestimmt präge. Seitdem sprach sie spöttisch von der Generation, deren größtes Abenteuer eine Interrail-Reise durch Europa gewesen sei. Vielleicht hatte sie sogar recht damit, was habe ich schon, verglichen mit ihr, erlebt? Weder die freie Liebe noch Brokdorf, ich war weder im Krieg, noch hatte ich mit Mördern zu tun. In den Augen meiner Mutter war ich eines der Wohlstandskinder, die sich in ihrer Bequemlichkeit eingerichtet hätten und zu vieles für normal hielten. Die Normalität sei aber das größte Verbrechen. Die Normalität legitimiere alles. Auch Kriege, Morde, das Töten. Die Normalität begründe sich aus dem Schweigen der Mehrheit. Zur Normalität gehöre auch, dass es jedes Jahr viertausend Verkehrstote gebe. Viertausend Verkehrstote seien akzeptiert, weil sie normal seien und wir sie für unsere Art zu leben in Kauf nähmen. Genauso wie die vielen Menschen in der Welt, die verhungerten, denen das Klima die Lebensgrundlage entziehe, die von Fluten überschwemmt würden oder in der Dürre verendeten oder die durch Waffen stürben, an denen wir verdienten. Das seien Tote, die keine Empörung auslösten. Aber wenn von achtzig Millionen Menschen in diesem Land jedes Jahr – statistisch gesehen – achthundert ermordet würden, sei das nicht normal. Dann sei die Empörung groß. Dann würden Gesetze verschärft. Weil nicht mal zehn Prozent von den entlassenen Mördern rückfällig würden, müssten die anderen neunzig Prozent für immer einsitzen, sie würden in Sippenhaft genommen. Es lief meist auf die Frage hinaus, ob es denn nichts gebe, was mich aus der Haut fahren ließe. Meine Mutter konnte sich in solchen Gesprächen, oder besser Monologen, sehr aufregen. »Gibt es nichts«, rief sie, »was dich dazu bringt, dich endlich zu wehren? Hast du keine Überzeugungen, für die du eintrittst?« Und weil ich meistens schwieg, seufzte sie theatralisch und ließ mich in Ruhe.
Was hätte ich sagen sollen? Hätten wir über Egoismen streiten sollen? Darüber, dass sie offensichtlich an alle dachte, die Sandinisten, den Vietcong, die Kubaner, an Terroristen, an Gefangene und Mörder, und darüber vergaß, dass sie Mutter war und einen Sohn hatte? Hätte ich ihr Vorwürfe machen sollen? Es heißt immer, der Sohn müsse den Vater morden, es geht immer um die Auseinandersetzung des Sohnes mit dem Vater, in der Psychologie, in der Literatur, in der Thronfolge, der Sohn müsse ihn überkommen, wenn er zum Mann werden wolle. Hätte ich meine Mutter morden sollen? Und wieso sollte ich jemanden morden, um dessen Liebe es mir doch ging?
Manchmal wünschte ich, ich hätte diese Wut in mir, mit der meine Mutter auf die Welt losging. Es schien, als wäre ihr jeder Anlass recht, ein Artikel in der Zeitung, die Aussage eines Politikers im Fernsehen, ein unbedachter Satz während einer Unterhaltung; besonders gern mochte sie es, wenn jemand sie zurechtwies, weil sie im Halteverbot stand oder bei Rot über die Straße ging. Einmal, ich war noch Kind, ging sie los, während ich, unsicher, was ich machen sollte, auf dem Bürgersteig zurückblieb und erst loslief, als sie schon die Straße überquert hatte. Eine ältere Frau hatte uns beobachtet und dann meine Mutter zur Rede gestellt. Sie hätte einfach weitergehen, die Frau ignorieren können, aber meine Mutter blieb stehen, sah ihr in die Augen und klärte sie darüber auf, in welch absurdem Land wir lebten, in dem Menschen vor einer Ampel stünden, nur weil diese rot leuchtete, und warteten, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen sei. In keinem anderen Land der Welt blieben die Menschen vor einer leeren Straße stehen. Warum auch? Wie sollte ein Kind lernen, seinen Sinnen zu vertrauen, wenn es dazu angehalten werde, auf ein rotes Licht zu starren und loszumarschieren, sobald es sich in ein grünes verwandele.
»Und das alles führt dann dazu«, sagte sie mit lauter Stimme, »dass Kapos wie Sie an den Kreuzungen herumlungern. Lassen Sie sich doch eine schöne Uniform schneidern, die steht Ihnen bestimmt hervorragend.«
Natürlich wusste ich damals nicht, was
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