Als wäre es Liebe
ein Kapo war, aber das Wort hatte ich mir gemerkt, weil es klang wie ein exotisches Tier. Und ich fragte mich, für welches Tier man eine Uniform schneidern ließ. Am Ende ließ meine Mutter die Frau stehen, die immer noch nicht wusste, was ihr gerade geschehen war.
Es ist nicht so, dass ich vor jeder roten Ampel stehen bleibe und auf das grüne Licht warte, aber mir fehlt die Empörung, um mich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, und sei es nur auf eine Auseinandersetzung mit dem Schaffner. Ich nehme immer schon im Voraus die Füße vom Sitz. Wenn ich irgendwo die Polizei sehe, dann achte ich darauf, im Straßenverkehr nicht aufzufallen, zumindest bis ich aus deren Sichtfeld bin. Selten bringt mich ein Zeitungsartikel dazu, mich aufzuregen, und noch seltener dazu, mich einer Initiative anzuschließen. Und wenn ich auf die Straße gehe, weil es dazugehört, gegen die Atomkraft auf die Straße zu gehen, dann laufe ich mit als einer von Tausenden. Aber ich trage weder ein Transparent mit mir herum noch skandiere ich irgendwelche Parolen. Mir ist es am liebsten, wenn ich nicht auffalle. Ich mag es auch nicht, mich zu streiten. Ich sei harmoniebedürftig, sagte eine Freundin zu mir. Meine Mutter sagt, mir fehlten die Überzeugungen. Vielleicht habe ich zu großes Verständnis für alles und jeden, vielleicht aber will ich mich auch einfach nur verstecken, so wie damals auf der Straße, als meine Mutter die Frau zur Rede stellte. Ich stand die ganze Zeit hinter ihr, ich weiß gar nicht, ob meine Mutter überhaupt bemerkt hatte, dass ich die Straße längst überquert hatte, ich stand hinter ihr, schloss die Augen und wünschte, sie hätte mir die Hand gegeben, wie andere Mütter es taten, wenn sie mit ihren Kindern eine Straße überquerten, statt der Frau Vorhaltungen zu machen.
Ich frage mich, wann ich das letzte Mal die Hand meiner Mutter gespürt habe. Wenn ich sie besuchte, dann stand die Tür meist offen, und meine Mutter hatte sich schon abgewendet oder wartete im Wohnzimmer. Wenn wir uns in der Kneipe trafen, dann zog sie manchmal den Stuhl ein wenig zurück, auf den ich mich setzen sollte. Aber sie legte nie ihre Hand auf meine oder strich mir durchs Haar. Auch als ich noch Kind war, hat meine Mutter immer Abstand gehalten zu mir. Ich weiß nicht, wie sie reagieren würde, umarmte ich sie oder gäbe ihr einen Kuss auf die Wange. Ich habe es seit der einen Nacht, als ich in ihr Bett gekrochen war, nie mehr versucht. Vielleicht hat sie sich auch deshalb nie von mir verabschiedet. Als ich eines Tages vom Spielen nach Hause kam, war sie weg. Vielleicht hatte sie Angst, ich hätte mich an ihr festklammern und sie mich nur mit Gewalt lösen können.
Sie weiß noch, wie er auf der Klosterwiese lag. Es war Sommer, damals. Und dieser Garten, umschlossen von den Klostermauern, war wie die Entdeckung einer neuen, kleinen Welt. Der Rasen, an seinen Rändern überwuchert von einer Blüten- und Pflanzenvielfalt, Orchideen, Hibiskus, eine Trauerweide, deren Zweige einen Teil der Mauer überdeckten. Sie hätte Stunden damit verbringen können, in ihrem Führer zu blättern, um die Arten all der Blüten und Blätter zu benennen. Aber ihn schien das nicht zu interessieren. Er lag auf dem Rasen und hatte die Augen geschlossen. Sie stand im Parlatorium, das an den Garten grenzte, und beobachtete ihn. Der wolkenlose Himmel bot keinen Schutz gegen die Mittagssonne, deren gleißendes Licht von den hellen Mauern des Klosters reflektiert wurde. Ihr war es zu heiß, sie war froh über den Schatten und die Kühle im Parlatorium. Sie wollte ihm sagen, dass die Sonne ihm nicht guttue, hatte sich seine Haut doch über all die Jahre an die Dunkelhaft gewöhnt.
Als er nach drei Wochen am Stück aus dem Keller kam und dem grellen Licht ausgesetzt war, riss er die Hände hoch, um seine Augen zu schützen.
Seine Arme lagen ausgestreckt neben seinem Körper. Seine Welt musste in Rosa getaucht sein, nur die dünne Haut seiner Lider bewahrte ihn vor dem Sonnenfeuer, er musste die Brände auf der Haut spüren und den Schweiß, der aus seinen Poren trat, aber er blinzelte nicht einmal. Sie musste sich zusammennehmen. Er würde in der Nacht nicht schlafen können vor Schmerzen. Aber wie hätte sie ihm, nach all den Jahren in Finsternis, die Sonne nehmen können?
Am Morgen, als sie aufwacht, ist es dunkel. Aber dann fällt ihr ein, dass sie die schweren Vorhänge zugezogen hat. Sie steht auf und tastet sich am Bett vorbei zum Fenster. Sie
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