Als wäre es Liebe
keine Erinnerung an die Straße, sie sieht nur, dass sie noch auf der Autobahn ist und offenbar nicht von der Straße abgekommen ist, was eigentlich einem Wunder gleicht. Oder es gibt ihn doch, den siebten Sinn. Die Hände am Steuer waren nicht ihre. Der Fuß auf dem Gaspedal war nicht ihrer. Sie muss zu sich kommen. Sie bremst und merkt erst im nächsten Moment, dass sie bremst, ohne zuvor in den Rückspiegel geblickt zu haben. Sie hat Glück, dass kein Auto hinter ihr ist. Sie fährt an den Seitenstreifen und hält. Sie stellt den Warnblinker an. Sie weiß, dass es gefährlich ist, auf der Autobahn zu halten. Aber im Moment wäre es noch gefährlicher, auf der Autobahn weiterzufahren. Nur eine kleine Pause, um ihre Sinne wieder zu schärfen. Im Seitenspiegel blenden die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos auf. Sie klappt die Sonnenblende herunter, im schwachen Licht betrachtet sie sich im Spiegel. Sie erkennt ihre Augen kaum wieder, sie sind so ausdruckslos, überhaupt: wie alt ihr Gesicht aussieht. Sie legt ihre Hände auf die Wangen und zieht ihre Haut straff. Aber es sind nicht die Falten, die sie verändert haben. Es ist die Müdigkeit, die sie erschreckt, eine Müdigkeit, die ihr ganzes Gesicht ergriffen hat, wo ist nur die Kraft geblieben, die sie früher hatte, mit der sie sich ihm später so oft widersetzt hat, eigentlich sein ganzes Leben lang, bis zu seinem Tod. Das hat sie Friedrich nicht erzählt, und ihr wird klar, dass sie ihm eine Menge nicht erzählt hat. Eigentlich wusste er kaum etwas über sie. Ihr Vater ist längst gestorben. Sie war nicht bei seinem Begräbnis. Letztlich, das wird ihr rückblickend klar, hat sie ihr Leben nach ihm ausgerichtet, es ging darum, ihm und vor allem ihr die Unabhängigkeit zu beweisen. Aber das war ein Trug. Wie kann man unabhängig sein, wenn es die Verletzung ist, die einen antreibt. Und jetzt sieht sie diese Müdigkeit im schwachen Licht der Sonnenblende. Auf der Autobahn irgendwo zwischen Mailand und Genua. Wollte sie es nicht wahrhaben? Oder hat sie sich immer in anderem Licht gesehen? Hat sie sich etwas vorgemacht? Es schmerzt, weil sie im Nachhinein nicht weiß, wie ehrlich sie Friedrich gegenüber war. Es gab Momente, in denen ihr klar war, dass sie ihm nicht nahe sein konnte, und wenn sie ehrlich gewesen wäre, wusste sie auch, warum, aber sie hat weitergemacht, bis es nicht mehr ging. Auf seine Kosten. Auf eine Art hat sie ihn missbraucht. Sie hat aus ihm ein Opfer gemacht, dabei hat er sich auf seine stille und geduldige Art immer dagegen gewehrt. Aber das konnte sie nicht akzeptieren. Weil er diese Empörung nicht hatte, die sie hatte und die sie ihr ganzes Leben lang begleitet hat, eine Empörung über diese Verlogenheit, mit der sie aufgewachsen war. Er kannte die Lüge nicht. Er war wütend gewesen auf die Polizisten, die angefangen hatten, seine Aussagen zu überprüfen. Er hatte Taten gestanden, von denen sie nichts gewusst hatten. Er hat die Wahrheit gesagt, weil er in seiner Einfalt nicht anders konnte. Aber sie fingen an, seine Aussagen zu überprüfen. Offenbar konnten sie nicht begreifen, dass jemand Taten gestand, von denen sie nicht mal wussten. Sie alle lebten mit der Lüge, das System war darauf aufgebaut. Er hatte bestimmt nicht mitbekommen, wie Strauß sagte, wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen wolle, dem solle die Hand abfallen, und kurz darauf wurde wiederbewaffnet. Dann hieß es, Deutschland halte sich heraus aus dem Krieg in Vietnam, aber das Napalm kam aus deutschen Fabriken. Und dann wurden auch noch Studentenführer von Polizisten erschossen, und die Polizisten wurden freigesprochen. Und Friedrich ließen sie büßen, sperrten ihn ein Leben lang weg, und der Justizminister sprach tatsächlich von Gerechtigkeit. Er aber ließ kein böses Wort zu, er sagte: »Rede nicht so über den Herrn Justizminister.« Wie sollte man bei alldem Vertrauen in die Demokratie haben?
Es klopft an die Scheibe. Sie erschrickt, reißt die Augen auf. Sie muss eingeschlafen sein. Sie sieht den Spiegel über sich, das Licht brennt noch. Es ist Nacht. Sie weiß nicht, wie lange sie hier schon steht. Sie blickt zur Seite und sieht eine Gestalt vor dem Seitenfenster. Ein Mann bückt sich herunter. Er leuchtet mit einer Taschenlampe ins Innere des Autos. Er blendet sie. Sie kneift die Augen zusammen und hält sich die Hand vor die Augen. Er senkt die Taschenlampe, und sie sieht, dass er eine Mütze trägt. Ein Carabiniere. Er klopft ein weiteres
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