Als wäre es Liebe
es ist, ihn zu teilen, ihm eine Gegenwart zu geben, sie wollte wissen, wie es sich anfühlt, wenn sie über ihn sprach, statt ihn zu verheimlichen. Es war wie ein erster Schritt des Vorstellens. Sie hatte sich ausgemalt, wie es gewesen wäre, ihn dabeigehabt zu haben. Aber sie konnte ihn nicht so sehen, es hatte nichts Selbstverständliches, sie war immer darauf gefasst, ihn zu verteidigen, die und wir. Sie fragt sich, ob es nicht tief in ihr diese Sehnsucht gab, für ihn da zu sein. Und gleichzeitig erschreckt sie dieser Gedanke, weil er etwas Mütterliches hat. Sie wollte nie eine Frau sein, die sich über das Muttersein definiert.
Sie saßen noch eine Weile nebeneinander auf der Bank und blickten in die Nacht. Auf einmal spürte sie eine Hand auf ihrem Oberschenkel, zögerlich, wie ein Hauch, der sie streifte. Offenbar war sich ihre Freundin selbst nicht sicher, ob diese Geste angebracht war, kurz darauf nahm sie ihre Hand wieder weg. Und sie wünschte, ihre Freundin hätte sie gelassen, weil die Berührung ihre Gedanken ablenkte, ihre Sinne beschäftigte, sie spürte den Wunsch, gestreichelt zu werden, ein paar Finger, die ihre Haut berührten, sie versuchte es, ihrer Freundin zu sagen, das ist schön, bitte, lass deine Hand, aber es fiel ihr so schwer in dieser Situation. Sie saß da, schloss die Augen und wartete und hoffte, dass die Freundin ihre Hand wieder auf ihr Bein legte, nur das, nicht mehr. Sie weiß nicht, warum, aber da war auf einmal diese Sehnsucht, berührt zu werden. Sie saßen nebeneinander, aber nicht nahe genug. Es ging auch nicht um die Freundin, sie glaubt, eine andere Hand hätte in dem Moment die gleiche Sehnsucht ausgelöst. Sie konnte keine Worte finden, sie konnte auch nicht nach der Hand tasten. Sie saß einfach da, wie versteinert.
Am nächsten Morgen war sie dann gefahren. Die Freundin stand vor dem Haus und winkte ihr nach. Sie sah sie im Rückspiegel. Je weiter sie sich von Savona entfernte, desto klarer wurde ihr, dass es nicht möglich wäre, mit ihm in ihrer Welt zu leben, sie hätten sich eine eigene Welt schaffen müssen, und letztlich war das die Erklärung für ihre Bilder, die sie von ihnen hatte: Mit ihm war sie unterwegs, vielleicht waren es Bilder einer Flucht, weil sie sich einen Alltag mit ihm nicht vorstellen konnte. Anfangs hatte sie gedacht, der Abschied fiele ihr leicht. Sie hatte ihren Koffer ins Auto gepackt, sie hatten sich kurz umarmt, sie hatte sich ins Auto gesetzt und war ohne Zögern losgefahren. Aber je länger die Fahrt gedauert hatte, desto schwerer lag ihr dieser ungeklärte Abschied auf der Seele. Es gab kein Einvernehmen zwischen ihnen, letztlich kein Verständnis. Es schien, als müsste sie für die Gefühle, die sie ihm gegenüber hatte, bezahlen. Seltsam, dass ihr – wieder im Auto sitzend – dieser Gedanke kommt. Der Preis war die Isolation. Einzelhaft. Und wenn er jemals herausgekommen wäre aus seiner Zelle, dann wäre er, statt in Freiheit, in den nächsten Gewahrsam geraten: eine Doppelzelle, die sie mit ihm hätte teilen müssen. Er hatte sich in neunundvierzig Jahren daran gewöhnt, er kannte es, aber für sie wäre es anders. Er sehnte sich nach diesem Leben in Geborgenheit. Freiheit hieß für ihn nicht, hinauszugehen und die Welt zu erkunden, Freiheit hieß für ihn, eingebunden sein in das Leben der Menschen, die er durch die Fenster des Gefängnisbusses und auf ihren Ausführungen sah. Immer waren Mauern oder Scheiben zwischen ihm und dem Alltag da draußen, und wenn es nur die Mattscheibe des Fernsehers war. Er hätte das mit Sicherheit nicht verstanden. Weil er einfältig war und aufrichtig. Er kannte keine Hintergedanken. Es war diese Reinheit seiner Gedanken und auch seiner Berührung in der Kirche, die sie in einer Weise entblößte, wie sie es zuvor noch nicht erlebt hatte. Das wird ihr klar. Sie dachte, es würde ihr leichtfallen, damals hatte sie nicht mal darüber nachgedacht, weil sie das Leben draußen als große Lüge empfand, und was hätte es Wahrhaftigeres geben können, als ein Leben mit ihm inmitten dieser verlogenen Welt? Es wäre wie eine alltägliche Demonstration gewesen gegen den bürgerlichen Konsens des Verdrängens, gegen die moralische Öffentlichkeit, gegen die Politiker und Meinungsmacher, die vormachten, wie man eine Amnesie kultivierte, gegen all die Menschen, die ihnen dankbar nacheiferten und sich dieser Herrenmoral annahmen, Menschen wie es sie in ihrer Familie zuhauf gab, vom Großvater bis zum
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