Als wäre es Liebe
sich zu erinnern. Hat aber nur noch Bruchstücke vor Augen. Den Rest der Nacht liegt sie mehr oder weniger wach auf dem Rücken. Sie wartet, dass die Morgendämmerung in den Himmel zieht. Sie dreht den Zündschlüssel, bis die Uhr leuchtet. Kurz nach fünf. Dann macht sie Licht und faltet die Karte auseinander. Wenn sie dort ist, wo sie denkt, dass sie ist, wären es noch zwei Stunden bis zum Meer, nach Finale Ligure. Sie stellt den Sitz wieder gerade, zieht ihn vor. Der letzte Tag ihrer Reise bricht an. Sie könnte am Meer sein, bevor die Cafés öffnen, bevor die ersten Menschen auf der Promenade zu sehen sind. Sie verspürt eine innere Unruhe, eine Hast, die sie während der ersten beiden Tage nicht kannte. Sie muss sich sogar dazu zwingen, noch einmal an einer Tankstelle anzuhalten. Während der Tankwart den Tank füllt, sucht sie die Toilette auf. Anschließend steht sie vor dem Waschbecken, hält ihre Hände unter das kalte Wasser, das ins Becken prasselt. Der Spiegel hat einen Sprung. Sie bückt sich über das Waschbecken, mit den nassen Handflächen fährt sie sich über die Wangen. Als sie dann kurz in den Spiegel schaut, sieht sie, dass ihre Augen gerötet sind, ein paar Haarsträhnen auf der Stirn kleben, der Sprung zieht sich einmal quer durch ihr Gesicht. Man könnte meinen, sie hätte geweint. Sie findet keine Papiertücher zum Abtrocknen.
Sie fährt an Genua vorbei, Richtung französischer Grenze. Ligurien. Eine Autobahn, die sich durch die Berge frisst, fast immer in Sichtweite der Küste. Ein paar Schiffe sind zu sehen. Sie kommt an Orten vorbei, die in den Ausläufern der Talkessel am Meer liegen. Sie öffnet das Fenster, und der Fahrtwind bricht ins Auto. Dann sieht sie zum ersten Mal ein Schild mit dem Namen des Ortes. Finale Ligure. Einer von so vielen Orten, an denen die Autobahn vorbeiführt. Er wusste nichts über diesen Ort. Er hätte in jeden anderen Zug steigen können. Aber vielleicht war es doch das Ende, das ihm verlockend erschien. Vielleicht sollte es damals schon sein letztes Ziel werden. Finale. Vielleicht wollte er alles hinter sich lassen, und dann kam ihm wieder dieser andere Friedrich in die Quere.
Er öffnete die Wagentür, lehnte sie an, löschte das Licht im Gang, und als Dagmar Kl. aus der Toilette trat, stieß er sie mit großer Wucht gegen die Wagentür, die aufsprang. Die Frau stürzte ins Freie. In diesem Moment hatte der Zug eine Geschwindigkeit von 100 km/h. Er rannte in den nächsten Wagen, zog die Notbremse und entwich ins Freie, rannte die Böschung hinauf und lief den Bahnkörper in Richtung Freiburg zurück, passierte den Bahnhof Schallstadt, und nach einer halben Stunde fand er die Frau zwischen den Gleiskörpern liegen. Vor Gericht sagte er aus: »Ich hörte sie stöhnen, zog meinen Dolch und stieß ihn tief in den Hals, denn ich konnte sie nicht stöhnen hören. Es war Mondschein. Ich sammelte die aus der Handtasche gefallenen Gegenstände zusammen, hob die Leiche auf die Arme und trug sie auf einen Feldweg. Dann schnitt ich die Kleider von der Frau und missbrauchte die Leiche. Ich habe an nichts anderes gedacht als an meinen Geschlechtsverkehr. Später legte ich die Leiche in einen Graben, begab mich wieder auf den Bahndamm, um nach Gegenständen zu suchen, die ich gebrauchen konnte. Ich fand eine Uhr und Geld – 1,50 Mark. Das Geld steckte ich ein und lief in Richtung Leutersberg davon. Vor Tagesanbruch wusch ich mich im Dorfbrunnen in Leutersberg. Später nahm mich ein Motorradfahrer mit nach Freiburg.« Der Staatsanwalt rief P. zu: »Hatten Sie, angesichts dieser blutenden jammernden Frau, die da hilflos auf dem Gleiskörper lag, kein Gefühl des Mitleids, hat Sie kein Erbarmen übermannt, wissen Sie nicht, was Schmerzen bedeuten?« P. zögerte lange mit der Antwort, dann sagte er unter Tränen: »Ich hatte immer nur den Wunsch, Geschlechtsverkehr zu haben, ein anderes Gefühl habe ich nie gehabt; gestört hat mich immer nur das Blut. Heute ist es mein Wunsch, die Tat ungeschehen zu machen.«
Hätte er damals im Zug einfach geschlafen. Dann hätte er am Bahnhof aussteigen können und hätte das Meer gesehen. Es wären nur noch ein paar Stufen gewesen, die vom Bahnhof abwärts führen. Das Erste, was ihr ins Auge fällt, ist ein Fabrikgebäude am Ortsanfang. Es liegt direkt am Meer. Und dann schon sieht sie den Bahnhof auf einer kleinen Anhöhe. Die Straße, die hinabführt, liegt da wie eine Schneise, die man durch die Häuser gefällt hat. Eine
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